UX:CANDIDE – Voltaire, User Experience und Karenfizierung

1759 erschien, unter Pseudonym des fiktiven Doktor Ralph, Voltaires satirischer Abenteuerroman „Candide oder Der Optimismus“.[1] Candide, der etwas gutmütige und leichtgläubige Protagonist wähnt sich, beeinflusst durch seinen Lehrer Pangloss, in der besten aller Welten. Pangloss selbst vertritt einen philosophischen Optimismus und beweist dem jungen Candide auf wortreiche Weise, dass dieser sich in einer Welt befindet, in der alles aufs Vortrefflichste eingerichtet ist und keinerlei Zweifel daran besteht, dass in letzter Konsequenz auch das augenblickliche Ungemach auf den besten aller möglichen Zustände hinausläuft. Candide selbst hält sich zunächst unerschütterlich an dieses Weltverständnis und es bedarf einer wilden Abfolge recht dramatischer Ereignisse und katastrophaler Entwicklungen im Roman, um Candide schlussendlich zu der Überzeugung kommen zu lassen, dass die Welt dann doch eher ein arbeitsreiches Veränderungsprojekt mit unklarem Ausgang darstellt. Damit ist die Idee der beste aller möglichen Welten nicht grundsätzlich aufgehoben, sondern in individuelle weltgestalterische Projekte mit kleinerem Zuschnitt verschoben. Und so lässt Voltaire Candide am Ende des Romans, einer letzten Verteidigungsrede des Optimismus durch Pangloss, diesem entgegnen, dies alles wäre schön gesagt, aber man müsse nun doch den Garten bestellen. Die Sache mit dem Garten beschäftigt uns bis heute, schließlich dürfen sich die Gartenbau-Center auch in Pandemiezeiten zu den Krisengewinnlern zählen und auch die Sache mit dem Optimismus ist noch nicht ganz geklärt.

Wie die Baumarkt Kampagnen der letzten Jahre in dramatisch-ästhetischer Bildsprache bereits herausgearbeitet haben, lässt sich die beste aller Welten mit Hilfe der Gartenbaukunst und im kleineren Maßstab nämlich durchaus verwirklichen. Die beste aller möglichen Welten ist allerdings in diesem Optimismus nicht ein Zustand des Wirklichen sondern auf Verwirklichung durch individuelle und gesellschaftliche Aktivitäten, genannt Projekte, angewiesen. Projekte dieser Art – auch das haben wir gelernt – gelingen, natürlich nur mit den richtigen Werkzeugen und Methoden.

Im Kleinen und im Großen konkurrieren eine Vielzahl von Dienstleistungen und Produkte zur Weltverbesserung. Ihr Versprechen, zur Realisation des besten aller möglicher Realitätsausschnitte beizutragen, natürlich bereits in entsprechende Narrative und Bildwelten übersetzt. Die Inszenierungen entwerfen ein emotionales Bild und zwar nicht nur vom kommenden Zustand sondern auch von den Selbstwirklichkeitserfahrungen, die den Prozess dahin begleiten. Bevor es zum Gartenbauprojekt kommt bedarf es einer Erlebnis- und Sinnvorlage, die die jeweilige weltgestaltende Aktivität mit der entsprechend motivierenden Erwartungswahrscheinlichkeiten versorgt. Die aller möglichen Welten liegt im Kommenden und im Konsumierbaren und ist auch eine Frage der jeweiligen USER EXPERIENCE (Anm. d. Redaktion: Abkürzung: UX – Übersetzung: Nutzererfahrung).

Überhaupt ist das hartnäckige Beharren auf den guten Ausgang und die Gestaltbarkeit der besten aller möglichen Welten eine Schlüsselqualifikation in beratend–gestaltenden Berufsfeldern. Hier sitzen sie, die Panglosses oder Pangli der Gegenwart und fahren unerschütterlich trickreiche wort-, bild- und methodenreiche Überzeugungsmanöver für das beste aller möglichen Angebote. Das Credo: Die beste aller Welten ist erreichbar und liegt – wie könnte es anders sein – stets im Einsatz des richtigen Mittels, bei dem an alles gedacht ist, selbst an eine ganzheitliche Nutzererfahrung, was man hiermit exklusive anbietet. Die gegenwärtige Misere, welcher Art sie auch immer sei, ist therapierbar. Sei es nun durch die neuste Methode des agilen Managements oder durch den neusten Entwurf des Designs. Unterschiede zwischen beiden bestehen auf dieser Ebene nur in der Art ihres jeweiligen Mediums. Sie sind moderne Unbestimmtheitsbewältigungsrituale und müssen auf diese Weise durch und durch optimistischer Natur sein. Ihr optimistisches Gebaren ist tief in die Gewebe einer artifiziellen, spätmodernen Wirklichkeit eingelassen. Als zeitgenössische Formen der Weltgestaltung, folgen sie einer interessanten Logik, sie versprechen unzureichende Ist-Zustände in wünschenswerte Sollzustände zu überführen.[2] Dazu braucht es immer erst einmal ein wenig Pessimismus, denn das Bestehende muss sowohl als kontingent, also anders möglich, wie auch als mangelhaft markiert werden. Stichwort: Schwer verbesserungswürdig! Der moderne Optimismus braucht also einen Rejektionswert, einen Abstoßungswert, wie die Systemtheoretiker sagen würden, damit es zu der entsprechenden Produktivität kommen kann. Die optimismusverbreitenden, um Zustimmung und Umsetzung werbenden, Innovationen und Gewinne versprechenden, Entwürfe und Methoden können gar nicht anders als von der Herstellbarkeit der besten aller möglichen Welten auszugehen, sich zu diesem Zweck selbst anzubieten und dabei auch gerne eine kritische Selbstreflektion zu unterschlagen.

Besonders gut lässt sich die beste aller möglichen Einrichtungen der Welt im Übrigen versprechen, wenn man es mit dem seltenen Phänomen einer sich plötzlich auftuenden, neuen Alltagssituation zu tun bekommt, in der Verhalten noch nicht tradiert und die passenden ästhetischen Codes noch nicht ausgearbeitet sind. Die passiert unter anderem wenn zwei bisher getrennte soziale und materielle Raumkategorien mit getrennten sozialen Praktiken, Rollen und Erwartungserwartungen verschmelzen. Zum Beispiel die plötzlich nicht nur gesellschaftsfähig, sondern notwendig gewordenen Home-Office-Situationen in Pandemiezeiten. Man hat es hier plötzlich mit einem improvisierten IST-Zustand zu tun, dessen Mängel und Unzulänglichkeiten nicht erst mühsam herausgearbeitet werden müssen. Sie liegen klar zu Tage. Selten ist es leichter eine verbesserte und überzeugende Vision anzubieten, die dann auch das Kunststück fertig bringen kann, die Heilige Kuh bürgerlicher Wohntradition – die Privatheit der eigenen vier Wände – gänzlich neuen Zugriffsbegehrnissen und Stakeholdergruppen zu erschließen, wie sich am Branded Homeoffice Vorschlag von Mutabor unlängst gezeigt hat.[3] Der verbesserungswürdige Zustand unserer improvisierten Home-Office-Lösungen ist nämlich auch anders denkbar, nämlich als Werbe- und Identifikationsfläche mit der jeweiligen Firmenidentität und als designter Außenauftritt, die beiden Parteien – den Heimarbeitenden und dem Unternehmen – eine besondere USER EXPERIENCE verspricht. Das hört sich zunächst nach einer Win-Win-Situation an – der Angestellte wird technologisch und materiell entsprechend ausgestattet und im virtuellen Meeting lässt sich die Unternehmensidentität visuell mitkommunizieren – ist aber auch ein gestaltender Eingriff. Eine Vision, die sich im optimistischen Tonfall gut kommunizieren lässt. Allerdings mündet das Konzept auch schnell in einem dystopischen Szenarium, da das vorgeschlagene Möbeldesign einen Designansatz verfolgt, der eine unglückliche Zwangsverheiratung von Möbeldiscount und preiswerter Großraumoffice-Ausstattung anstrebt. Das endet dann in einem Szenarium, bei dem man ernsthaft auch über einen Schadensersatzanspruch für die Verletzung der ästhetischen Intimsphäre nachdenken sollte. Um hier wirklich eine positive User Experience zu schaffen, dürften somit noch ein paar weitere konzeptionelle Überlegungen notwendig sein oder ein größerer Einkauf bei USM Haller.

Aber mit diesem Beispiel lässt sich an den Grundmechanismus des modernen Optimismus herankommen. Er speist sich aus der permanenten Oszillation von Enttäuschung und Erwartung in modernen Gesellschaften. Unabschließbare Projekte sind natürlich das Grundmotiv jeglicher Designaktivitäten, nur so lassen sich die entsprechenden Entwürfe anbieten, mit denen sich nun endlich die beste aller Welten in ultimativer User Experience realisieren lässt. Denn genau darum geht es, eine positive User Experience. Eine sinnlich-libidinöse Erwartungssicherheit, in der die Unbestimmtheit und die Herausforderungen der Welt eingeebnet sind. Als Konsumenten sind wir hier alle ein wenig wie der Candide auf dem Schloss des Baron Thunder-ten-trockhs zu Beginn des Romans, allerding mit ziemlichen Beharrungskräften und recht geringer Frustrationstoleranz. Und hier findet sich ein kleines, noch unbeobachtetes Problem, dessen möglicher Umfang hier nicht vollständig erfasst werden kann und über das hier nur einige kleinere Vermutungen angestellt werden können.

UX-Konzepte werden in kleinteiligen, aber omnipräsenten Angeboten und Projekten realisiert, eine App hier, ein Service dort. Allerdings setzen sich diese Konzepte als dünne, Einebnungs-Interfaces an die Oberflächen von Komplexitäten und beeinflussen so unsere Erwartungskulturen im Umgang mit der Welt.[4] Kurz gesagt: Damit erfahren wir unsere Wirklichkeit zunehmend im Modus des Experience Design. Das scheint zunächst trivial oder auch eine begrüßungswürdigee Verbesserung zu sein, besitzt aber durch den Umstand, dass diese Konzepte ganz nebenbei unsere alltägliche Wirklichkeitserfahrung prägen – und damit einen Trainingseffekt auf sozial-psychologischer Ebene besitzen – auch eine Reihe von nicht bedachten Konsequenzen. Als Konsument*innen vom UX Design verwöhnt, verlieren wir die Geduld im Umgang mit einer Wirklichkeit, die man besser als Einheit der Differenz der besten und der schlechtesten aller möglichen Welten verstünde. Hindernisse, Widerspenstigkeiten, Zumutungen, negativen Affektstimmungen und Enttäuschungen, Katastrophen und Krisenverläufen aller Art schlagen nämlich auch weithin ihre Resonanzen[5] in unseren Psychen, allerdings mit dem Unterschied, dass diese jedoch entsprechende Toleranzen im Umgang mit UX eingebüßt haben.

Die letzten sechs Monate, darin dürfte aller sozialen Pluralität zum Trotz Einigkeit bestehen, waren im Sinne der User Experience auf nahezu sämtlichen Ebenen des Alltags eine absolute Zumutung. Die entsprechenden affektiven und emotionalen Frustrationsentladungen lassen sich bereits recht deutlich in allerlei seltsamer und kontrafaktischer Aktivität beobachten. Man darf also die Vermutung anstellen, dass die monokausale Ausrichtung auf positive, affirmative und bequeme User Experience-Konzepte anscheinend in einer grundlegenden und genderunabhängigen KAREN-fizierung[6] großer Bevölkerungsteile, die nun definitiv gerne die Manager*innen sprechen möchten, aber sowohl an der Adressenlosigkeit der ganzen Angelegenheit, wie an der Begrenztheit ihrer eigenen Artikulationsmöglichkeiten scheitern.

Darin haben sie im Übrigen nichts mit Voltaire`s Candide gemein, denn dieser verfügt durch die Überzeugungsarbeit Pangloss noch über einen Optimismus erster Ordnung. Ein solcher Optimismus besitzt noch keine Vorstellung von der Einheit seiner Differenz. Er hält sich auf der einen Seite oder der anderen Seite seiner Unterscheidung auf. Die beste aller möglichen Welten, ist ein Zustand, der auch dann vorauszusetzen ist, wenn ein augenblickliches Desaster das Gegenteil nahelegt. Das hält man dann einfach durch, damit am Ende des Romans die beste aller möglichen Welten zu einem bescheidenen Gartenbauprojekt werden kann.

Kompliziert wird die Sache jedoch, wenn die beste und die schlechteste aller Welten gleichzeitig zu Verfügung stehen und die Sache eine Angelegenheit von Beobachter*innen wird, die mit der Einheit der Differenz der besten und schlechtesten aller Welten operieren und sich entscheiden müssen, während sie gleichzeitig darauf trainiert sind, die Entscheidung durch entsprechend gestaltete Angebote ganz nach dem Motto der HypoVereinsbank „Leben Sie, wir kümmern uns um den Rest“ abgenommen zu bekommen. Dann wird es messy, dann wird es anstrengend und dann wird der Ruf nach Einfachheit und Klarheit laut, der sich an eine anonyme, übergeordnete Instanz richtet. Hier wird der Teil mit dem eigenverantwortlichen und eher bescheiden angelegten Gartenbauprojekt übersprungen, da sich man sich daran gewöhnt hat, dass sich zu Hauf Gartenbauanbieter finden, deren immer neue Saisonware zumindest kurzfristig die beste aller möglichen Ausstattung verspricht. Und wenn es im Garten dieses Jahr auch erst einmal nach Poco-Domäne ausschaut, im nächsten Jahr ist schließlich auch wieder Sommer. Dann lässt sich auch ein Garten im Landhausstil ausprobieren inklusive der dekorativ platzierten Buchsbaumschere aus dem Hause Burgon & Ball, seit 1730 in unveränderter Form produziert.

[1] Voltaire (2007); Candide oder der Optimismus.

[2] Rittel, Horst (2013); Thinking Design

[3] https://www.mutabor.de/project/branded-homeoffice/

[4] Vgl. Simon, Herbert A. (1990); Die Wissenschaft vom Künstlichen.

[5] Vgl. Rosa, Hartmut (2016); Eine Soziologie der Weltbeziehungen.

[6] KAREN und KEVIN sind die Leute, die bei Alltagsproblemen einen psychischen Melt-down bekommen und sich über alles beschweren, weil sie sich als Kund*innen nicht wertgeschätzt, als Nutzer*innen nicht verwöhnt genug fühlen. Dabei wird es grob, aggressiv und ziemlich psychotisch.