James Baldwin – The fire next time – Nach der Flut das Feuer

James Baldwin wurde 1924 in New York geboren. Gestorben ist er in Südfrankreich 1987. Er wurde 63 Jahre alt. 1963 erschien dieses Buch. Er schrieb fünf Bücher, zahlreiche Essays und Gedichte. The Fire Next Time ist das bekannteste, machte ihn weltberühmt. James Baldwin war der erste (!) Schwarze Künstler auf dem TIME Magazine. 1963. Sein Thema: Rassismus. Schon immer. James Baldwin wuchs in der Bronx, New York auf. Er hatte acht Geschwister. Seine Familie war religiös geprägt. Wie die meisten Familien in seiner Umgebung. James Baldwin hatte mit 14 Jahren sein “Erwachen”. Er erkannte, dass es ihm praktisch unmöglich war, seiner von außen auferlegten Bestimmung als Schwarzer genau dem Lebensweg folgen zu müssen, der ihm von Geburt an vorgeschrieben war, nicht anders als mit einem “Kniff” zu entkommen. Er entdeckte, dass sein Kniff in der Zuwendung zur Religion, zur Kirche – nicht in einem Leben auf der Straße zwischen Drogen und Prostituierten – liegen würde. Er wurde Prediger bevor er es schließlich zulassen konnte, sich als Schriftsteller zu begreifen.

In diesem Sommer 2020 hat sich auf der Welt wieder etwas bewegt. Der Rassismus gegen People of Color ist wieder Thema. Der Tod von George Perry Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis war der Auslöser. Die Welt brauchte einen neuen Auslöser. Als Weiße fühle ich mich kaum in der Lage, für die Black Lives Matter-Bewegung zu sprechen, eine Meinung zu haben, ohne mich verknotet, verschraubt, falsch zu fühlen. Ich habe viele Artikel gelesen, Podcasts gehört, Dokumentationen gesehen. Ich verstehe nicht immer alles. Ich würde gerne aus voller Überzeugung sagen können Ich bin keine Rassistin. Aber ich habe gerade gelernt, dass ich das nicht kann, allein aufgrund der Gesellschaft, in der ich erzogen wurde, in der ich aufwuchs. Das ist echt schräg und werde deshalb nicht aufhören mich mit Rassismus zu beschäftigen. Aber ich habe verstanden, dass ich als Weiße niemals werde nachvollziehen können, wie es ist, nicht Weiß zu sein. Und ich habe verstanden, dass es wichtig ist, sich zu verhalten. Denn jeder Text, jedes Wort, jeder Ton, der sich gegen Rassismus richtet, muss aufgeschrieben, gesagt, gespielt werden.

Man sagt ihm, wo er hingehen kann, was er zu tun hat, wo er leben soll und wen er heiraten kann

Das tat James Baldwin. Sachlich nüchtern und gleichzeitig sehr emotional. Mit am eindringlichsten in seinem Brief an seinen Neffen James. Er schreibt ihm, dass er nichts zu erwarten hat, als Schwarzer, geboren im Ghetto, das seinen Lebensweg beschreibt mit den Zukunftsaussichten, die ihm von der Gesellschaft, die für ihn, weil er Schwarz ist, bestimmt, wie er zu leben hat. Und das nur aus diesem einen Grund: weil er Schwarz ist. Eine Gesellschaft, die ihm sagt, dass er wertlos ist, dass er sich mit dem Mittelmaß zufrieden zu geben hat. Man sagt ihm, wo er hingehen kann, was er zu tun hat, wo er leben soll und wen er heiraten kann. Das Leben sei so angelegt, dass man als Schwarzer das glauben soll, was die Weißen über die Schwarzen sagen. Aber, sie sagen es schlichtweg aus Angst, aus Unmenschlichkeit. Es hat nichts mit der, Schwarzen Menschen unterstellten Minderwertigkeit zu tun. Es gibt keine Minderwertigkeit. Das ist die Angst der Weißen. Sie unterstellt den Schwarzen Menschen Minderwertigkeit. Aus Angst und Unmenschlichkeit erwachsenen Aussagen verdienen es nicht, dass man ihnen Glauben schenkt, sie sind nicht wahr.

Baldwins Rat an seinen Neffen: “…verlass Dich auf niemanden, vertraue nur Deiner Erfahrung. Wenn Du weißt, woher Du kommst kannst Du unendlich weit gehen.” 

Aus ihrer Arroganz und ihrer Angst heraus meinen die Weißen, sie müssten nur lernen, die Schwarzen zu akzeptieren, dann wäre die Welt in Ordnung. Aber es gibt nichts zu akzeptieren, Schwarze müssen nicht akzeptiert werden. Schwarze müssen akzeptieren, dass Weiße ihre eigene Geschichte nicht verstehen. Sie sind in der Geschichte gefangen. Sie mussten so viele Jahre der Überzeugung sein, Schwarze seien weniger wert als Weiße. Sie wissen es eigentlich besser aber nach seinem Wissen zu handeln bedeutet Einsicht und Einsicht bedeutet Gefahr. Die Gefahr sehen die Weißen darin, dass die Welt, wie sie sie kennen, aus den Fugen geraten würde, der Mond wäre plötzlich die Sonne und die Sonne der Mond, wenn sie ihr unterbewusstes Wissen ins Bewusstsein dringen ließen. Zu verstehen, dass dem nicht so ist, dass das Zulassen des besseren Wissens keine Gefahr bedeutet, braucht Zeit. Immer noch mehr Zeit. Und James Baldwin zufolge braucht es Liebe. Liebe, die die Schwarzen den Weißen entgegenbringen, um ihnen zu zeigen wie sie sind, was sie wissen, und dass Einsicht nicht Gefahr bedeutet – sondern Freiheit. Die karge Wahrheit ist: Schwarze können erst frei sein, wenn Weiße frei sind, frei von Angst.

James Baldwin scheint großes Vertrauen darin zu haben, dass die Weißen es irgendwann verstehen.

Ich bin mir nicht sicher. Seit James Baldwin sind Jahrzehnte vergangen und es hat sich nichts verändert. Das zeigt nicht nur der Mord an George Floyd. Das zeigen all die anderen Verbrechen, die an Schwarzen begangen werden und das zeigen die vielen Initiativen weltweit gegen Rassismus und der Umstand, uns Weißen immer wieder und auf unterschiedlichste Weise erklären zu müssen – denn wir sind zu beschränkt und zu ängstlich, um es aus eigenem Intellekt und Vertrauen in uns selbst  zu verstehen – was es bedeutet, nicht Weiß zu sein. Dabei ist es so einfach: niemand ist besser als der andere. Niemand ist mehr wert als der andere.

Baldwin will sich nicht fremdbestimmen lassen, sich sagen lassen müssen, wo sein “Platz” ist

Der zweite Teil des Buches ist überschrieben mit VOR DEM KREUZ Brief aus einer Landschaft meines Geistes

Ich habe irgendwann aufgehört Stellen zu unterstreichen. Jede Zeile ist es wert unterstrichen und gemerkt zu werden. Das führt dazu, dass sich im folgenden Dinge lesen, die schon oben beschrieben wurden. Bei diesem Thema sollte das nicht stören.

James Baldwin beschreibt seinen Lebensweg, seine Umgebung dabei streng beobachtend. Seine Freunde, wie sie sich ihrer Bestimmung ergeben, so zu sein, wie “der Mann”, der Weiße, es für sie vorgesehen hat. Denn die Schwarzen halten für alles her, was den Weißen verunsichert. Das “Negro Problem” wird laut Baldwin solange bestehen, solange die Weißen es nicht schaffen, sich selbst zu akzeptieren, sich selbst zu lieben. Sie brauchen die Schwarzen, um sich nicht mit sich selbst beschäftigen zu müssen. Es ist also aussichtslos. Letzteres steht nicht im Buch, das schwingt mit in meinem Lesen.

Baldwin will sich nicht fremdbestimmen lassen, sich sagen lassen müssen, wo sein “Platz” ist – auch wenn ihm das wie allen Schwarzen (Baldwin bezieht sich in erster Linie auf die in Amerika lebenden und durch Sklaverei geprägten Schwarzen) in die Wiege gelegt wurde. Noch bevor die Kinder den Unterschied zwischen Schwarz und Weiß erkennen, lernen sie bereits durch die Stimmen, die Tonlage ihrer Eltern, dass es etwas gibt, das sie zwingt, sich selbst zu verachten. Die Welt, in die sie hineingeboren werden ist die der Weißen. Und die haben die Macht. Und wenn ein Schwarzes Kind diese Macht in Frage stellt, ist es in Gefahr. Es sei denn, es findet seinen “Kniff”. So wie Baldwin. Er fand die Kirche und das Schreiben. Beim Schreiben blieb er. Bei der Kirche nicht. Nicht als Prediger, nicht als “Brother Baldwin”. Immer aber als kritischer Beobachter der Religionen. Er setzte sich intensiv mit den verschiedenen Auslegungen auseinander, hinterfragte das Prinzip der Moral, vor allem das des Christentums. Hier kommt er zu dem Schluss “Ohne Übertreibung lässt sich sagen, wer wirklich ein moralisches Wesen sein möchte (…) muss sich zunächst von allen Verboten, Verbrechen und Heucheleien der christlichen Kirche lossagen. Wenn Gott als Idee überhaupt einen Zweck hat, kann es nur der sein, uns größer, freier und liebevoller zu machen. Wenn Gott das nicht schafft, ist es an der Zeit, ihn loszuwerden.” (S. 63). Baldwin wird ihn, soweit ich es lese, nicht los. Egal, ob es nun der Weiße oder der Schwarze Gott ist (S. 63+71, vgl. Nation of Islam, Elijah Muhammad). 

“White” / “Colored”

“White Ladies” / “Colored Women”

Aber er distanziert sich von ihm, stellt ihn immer wieder, aus verschiedensten Blickwinkeln in Frage und stellt ihm Fragen, die er sich letztlich selbst beantwortet. Dies immer in Verbindung mit der Beobachtung der Welt. Der Beobachtung, wie Minderheiten auf der ganzen Welt behandelt, misshandelt, benachteiligt, unterdrückt werden – und wie Gott dies zulässt. Und weshalb Menschen meinen, mehr Macht als andere zu haben, weshalb Menschen meinen, Weißen müsse mehr Respekt entgegengebracht werden als Schwarzen, weshalb Weiße der Meinung sind, andere als Untermenschen bezeichnen und be-/misshandeln zu dürfen. Und Baldwin kommt wieder zu einer Erkenntnis, die mir haften bleibt: “Der Mensch braucht nicht böse zu sein, nur rückgratlos.” (S. 70). Er bezieht sich auf die amerikanische Zivilisation, die nicht durch Bösartigkeit zerstört wird sondern durch Rückgratlosigkeit der Bevölkerung, die zulässt, dass auf Schildern “White” und “Colored” (Bus) oder noch perfider “White Ladies” und “Colored Women” (Waschräume) steht. Die zulässt, dass Schwarze nicht bedient werden, weil sie vermeintlich “zu jung” aussähen – und wäre das nicht schon rassistisch genug, werden sie dann noch darüber aufgeklärt, dass es nicht leicht wäre einen zwanzigjährigen “Negro boy” von einem siebenundreißigjährigen “Negro Boy” zu unterscheiden. Man weiß gar nicht, was schlimmer wiegt, der Rassismus oder die Beleidigung, man meine es doch nur gut mit ihnen. Zumal wenn es sich um Menschen in Uniform handelt. Baldwin beschreibt, wie er sich innerlich wappnet, sobald er sich “Türstehern” oder “Polizisten” gegenüber sieht. Sein eigenes Auftreten hat in solchen Fällen einzig zum Ziel, sie einzuschüchtern bevor sie ihn einschüchtern, denn “anzunehmen, dass diesen Menschen ihre Menschlichkeit näher ist als ihre Uniform, kann ich mir nicht leisten. In der Regel können Schwarze es sich nicht leisten anzunehmen, dass Weißen ihre Menschlichkeit näher ist als ihre Hautfarbe. (…) Die Brutalität, mit der Schwarze in diesem Land behandelt werden, lässt sich gar nicht übertreiben – auch wenn die Weißen das noch so ungern hören.” (S. 81). Und hier schließt sich der Kreis. Knapp 60 Jahre später hat sich nichts geändert. Zwar gab es zwischendurch einen Schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten – Barack Obama. Und wir haben aktuell eine indisch-jamaikanische Vize-Präsidentschaftskandidatin der Demokraten – Kamala Harris. Aber wir haben auch Donald Trump und wir haben, stellvertretend für alle misshandelten Schwarzen in Amerika, George Perry Floyd.

“Es erfordert große geistige Widerstandskraft, den Hassenden nicht zu hassen, dessen Fuß man im Nacken hat, und ein sogar noch größeres Wunder an Milde und Einsicht den Kindern beizubringen, dass sie sie nicht hassen sollen.”

Vielleicht sollten wir Weißen endlich unsere Angst loswerden und unseren Kindern beibringen, dass niemand mehr oder weniger wert ist als man selbst.

Titel: Nach der Flut das Feuer, erschienen erstmals 1963

Autor: James Baldwin

Übersetzerin aus dem Amerikanischen: Miriam Mendelkow

Verlag: 2020 dtv, München, 224 Seiten

Text: Henrike Heick