Seepferdchen
Ein Portrait von Andrea Grill
Naturkunden Nr. 95
Matthes & Seitz, Berlin, 2023
144 Seiten

Words: Henrike Heick

„Vogelkunde“ und „Pilzkunde“ waren Bücher, die wir – meine Geschwister und ich – uns als Kinder stundenlang angucken konnten. Also ich zumindest. Und ich behaupte, meine Geschwister taten das auch. Vielleicht auch nicht. Ich habe unerhört wenige Erinnerungen an meine Kindheit. Überhaupt ist mein Erinnerungsvermögen recht eingeschränkt. Ich bin immer wieder total beeindruckt, wenn Menschen um mich herum Geschichten aus ihrer (oder meiner!) Vergangenheit sehr plastisch und detailreich erzählen. Ich kann mich noch nicht einmal daran erinnern, ob Seepferdchen sich erinnern. Dabei habe ich das Buch eben erst gelesen. Die einzige Entschuldigung, die ich dazu habe: mein Fokus lag nicht auf „Haben Seepferdchen Erinnerungen?“. Aber da war etwas mit Erinnerungen/Seepferdchen. Der Hippocampus in unserem Hirn, bzw. die zwei Hippocampen. Ihre Struktur ähnelt der Form kopfloser Seepferdchen (lat.: Syngnathus hippocampus). Taxonomiert im 16. Jhd. vom Anatom Julius Caesar Arantius, aus Venedig. Sie sorgen unter anderem für den Transfer von Inhalten vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis, sie speichern Erinnerungen.
Ich habe mir noch nie vorher Gedanken über Seepferdchen gemacht. Warum auch. Ich tauche nicht, hatte und wollte nie ein Aquarium und Monogamie unter Tieren hat mich auch nie besonders getriggert. Manche Menschen interessiert Monogamie unter Tieren sehr. Mich nicht. Ich sah einfach das Buch in einem neuen Buchladen bei uns um die Ecke und fühlte mich angezogen. Vollkommen irrational, ohne Bezug.
Und da bin ich nun, bei den Seepferdchen.

Es ist ein Büchlein aus der Reihe Naturkunden. Jeder Band konzentriert sich auf ein Tier oder ein Gewächs. Allesamt sind wunderschön illustriert – paradiesische Zustände für Cover-Käufer und Menschen, die gerne Bücher als kleine Aufmerksamkeit verschenken. Aber eben auch für Leser, die sich einen kurzweiligen und dabei fundierten Einblick über eine Spezies erhoffen.
Von Spinne, Eidechse, Wespe, Esel, Luchs und Elefant zu Birke, Kaktus, Tanne und Nelke und der Arten noch viel mehr. Naturkunden ist eine Bereicherung für jedes Bücherregal.

Im Falle des Seepferdchens lernt man:
Carl von Linné beschreibt als erster offiziell das Seepferd, 1785 in Uppsala. Er nennt es Syngnathus hippocampus, „pferdeähnliches Meereswesen“.
Heute verzeichnet die Wissenschaft 57 anerkannte Arten.
Es unterliegt dem Washingtoner Artenschutzabkommen CITES von 2004 – nach jahrelanger Lobbyarbeit des „Project Seahorse“, einer Initiative der kanadischen Meeresbiologin Amanda Vincent.
Es ist ein Fisch, genauer, ein Strahlenflosser – im Gegensatz zu Fleischflosser, zu denen Landwirbeltiere und auch der Mensch gehören.
Es überlebt nur in Salzwasser – in Zeiten, in denen man Seepferdchen noch zuhauf in der Brandung fand, nahmen Menschen sie mit nach Hause und setzten sie wie Goldfische in ein Behältnis mit Süßwasser. Sie wunderten sich, dass die armen Wesen das nicht länger als einen Tag durchhielten.
Es hat Knochen, keine Knorpel (Hai).
Es kommuniziert mittels „Klicken“ und „Knurren“ oder „Schnurren“. Das Klicken entsteht durch Pulsieren der Schwimmblase oder durch Bewegung der Schädelknochen. Das Knurren oder Schnurren – je nach Gemütslage – durch Muskelbewegung bzw. Vibration.
Es hat weder Gebiss noch Magen. Es saugt seine Nahrung mit einem „plopp“ ein und verdaut die Nahrung sofort. Das bedeutet auch, dass es immerfort essen muss, um nicht zu verhungern.
Es ist ein Meister der Anpassung. Das millionenjahrelange Überleben verdankt es seiner rasanten Anpassungsfähigkeit an jeglichen Lebensraum.
Es verbreitet sich durch Meeresströmung und gelangte so und gelangt weiterhin an die verschiedensten Enden der Welt – und passt sich an.
Es paart sich mehrere Male je Saison; auf der Nordhalbkugel geht die Saison von Mai bis September, auf der Südhalbkugel von September bis Mai. Rund um den Äquator, in tropischen Gewässern könnten sie sich theoretisch über das ganze Jahr hinweg fortpflanzen. Logisch.
Das Weibchen produziert 60 bis 2.000 Eier und bugsiert diese beim Paartanz – die Schwänze wickeln sich umeinander – in die Brusttasche des Männchens, das währenddessen Sperma abgibt, so dass sich Sperma und Eier bestenfalls begegnen und gemeinsam in der männlichen Brusttasche landen.
Je nach Wassertemperatur gebiert das Männchen die millimetergroßen Jungen nach zwei bis vier Wochen mittels teils tagelanger Kontraktionen.
Seepferdchen sind ab der ersten Sekunde auf sich selbst gestellt, die Brutpflege fällt aus.
Statistisch gesehen überleben von 1.000 Jungen 5.
Das Seepferd ist aus Mangel an Alternativen (!) monogam.
Die Verteidigung des Seepferds besteht im Verschwinden. Es passt sich seiner Umgebung an. Nur geübte Augen finden es zwischen den Seegräsern, Korallen oder auf dem Meeresgrund.
Seepferdchen gibt es auch in der Nordsee!
Auf Seemännisch heißt Seepferd „Ringelnatz“ – Joachim Ringelnatz ist der Künstlername ebenjenes Dichters, der sich nach seiner Schiffsjungenzeit nach dem Glücksbringer der Seefahrer, dem „Ringelnatz“ (= Seepferdchen) benannte.
Der erste Feind des Seepferds ist das Seepferd selbst: die meisten verhungern schlicht.
Der zweite Feind des Seepferds ist der Mensch: sein Lebensraum wird durch Schleppnetze, die den Meeresboden rasieren, zerstört; es endet als Beifang; es erstickt am Müll, den der Mensch in die Ozeane kippt; Pestizide küstennaher Landwirtschaft vergiften es; Es wird zu Medizin verarbeitet. Beliebt gegen Impotenz, aufgrund seiner angeblich strikten Monogamie. Obwohl es strenge Beschränkungen gibt, ist der illegale Handel mit getrockneten oder als Mehl und Staub (TCM, Homöopathie) verarbeiteten Seepferdchen nicht aufhaltbar (Impotenz!).

Das sind nur einige wenige Merkmale, die das Seepferd beschreiben und einen sehr verkürzten Einblick geben, in die kurzweilige aber überaus aufschlussreiche Lektüre dieses Bands. Und was der obigen Auflistung vollkommen abgeht, ist die Leidenschaft und Faszination mit der Andrea Grill – passionierte Schnorchlerin – sich für das Seepferd einsetzt. Wie wichtig das Seepferd für den Lauf der Welt ist, was seine Abwesenheit für die Welt bedeuten würde. Wie wichtig es ist, dieses Wesen zu schützen und es nur gerecht wäre, das Seepferd für das, was der Mensch ihm antut, zu entschädigen.
Sie streift den kulturgeschichtlichen Hintergrund der nicht in Übermaß vorkommenden aber wenn dann leidenschaftlichen Liebe der Menschen zu den Seepferdchen. Wer sich einmal eingehend mit ihnen beschäftigt hat, kommt nicht wieder von ihnen los. Das gilt für die europäische Oberschichten im 19., 20. Jahrhundert wie auch für native Völker auf uns fernen Inseln. Erstere interessierten sich für die Seepferdchen am Rande mit wissenschaftlicher Neigung, mehrheitlich aber aus dekorativer Lust und gesellschaftlichem Prestige. In England kamen in den 1850ern Aquarien in Mode und man traf sich im Londoner Regent´s Park im Fish House der Zoological Society zum Seahorsewatching. Native Völker, wie beispielsweise auf den Philippinen, lebten sehr lange sehr gut von ihrem Verkauf, wussten aber genau aus diesem Grund sie zu schützen und ihren Lebensraum zu erhalten.

Es ist ein Genuss auf so leichte und illustre Weise etwas über Wesen zu lernen, von denen man weiß, dass sie existieren, aber nicht, dass sie so wertvoll sind und dass das Wissen um sie eine Bereicherung ist.
Schützt die Seepferdchen!
Lest Naturkunden!

„Für die Erde als Gesamtheit sind wir Menschen nicht wichtiger als Plankton.“ Und wir richten sehr viel mehr Schaden an als Plankton.