Real
POST 1: Broken Wings
Flügel, verdammt, wo sind diese Flügel. Meine Güte ist das voll hier, trotzdem, ohne die Flügel gehe ich nicht weg.
Ich wühle mich vorbei an braungebrannten Leibern, an Cocktail schlürfenden Bikinischönheiten, an Sixpack trainierten Jüngelchen, an bärtigen Muskelmenschen und an diversen lasziv planschenden Badenixen.
Da, endlich, da hinten am Ende des Pools, ich sehe die Flügel im gleißenden Licht der Sonne strahlen, da muss ich hin. Nun kann mich keiner mehr stoppen.
Schon mal des Haargel aus meiner Bauchtasche geholt „…oh Entschuldigung, ich wollte dich nicht anrempeln, melde dich später bei mir, ich geb dir nachher einen Drink an der Bar aus“…schnell noch ein prüfender Blick in die Selfiekamera meines Handys werfen … „Och ja, ein wenig gebräunter könnte ich sein, geht aber ansonsten“…und dann bekomme ich Flügel!
Verdammt …was ist das? Wie kann das sein? Warum lauern hier so viele Frauen rum? Hilft ja nix, warten und warten …und dann kommt der große Moment. Ich setze mich auf die Lehne der Sitzgelegenheit …„Äh, könntest du vielleicht ein Bild von mir machen, nein?“
Mist, was war das denn für eine eingebildete Kuh, die hatte wohl Angst, dass ich mehr Likes als sie bekomme. „Ah, Bedienung, bitte, bitte, bitte“ (herzchenflötend).
Nun meinen Rücken richtig zu den gemalten Flügeln an der Steinwand ausrichten, schnell noch die Beinchen übereinander geschlagen, locker mit meinem langen Haar spielen, verstohlen zur Seite schauen und …KLICK!
“Hast du’s? Sind die Flügel auch hinter mir zu sehen? Sehe ich wie ein Geflügelter aus? Nein? …Flügel abgeschnitten? Dann bitte noch einmal“.
Eine hohe Stimme dringt durch die Deep House Mucke zu mir ans Ohr: „Nein, jetzt bin ich aber dran, weg da“. Ich bin so verwirrt, dass ich aufstehe und den begehrten Sitzplatz vor der bunten Flügelmalerei freimache. Noch einmal anstellen? Ohne mich.
Das war es dann wohl mit meinem Flügelbild für Instagram. Eine Welt bricht zusammen, was nun? Es ist zum aus der Haut fahren. Mit meinem Onepack kann ich auch keinen lässigen, an der Poolkante verdrehen Shot machen, hier ist es vorbei, ich muss hier weg. Aus die Maus. Overdose Instalife. Meine Laune ist verdorben und ich verlasse niedergeschlagen den Haubentaucher in Berlin.
Ob das alles wahr ist was ich hier schreibe? Das kannst du entscheiden lieber Leser, aber gib doch mal auf Instagram #Haubentaucher ein und scrolle dich durch die Suchergebnisse. Ich wette mit dir, du wirst neben den echten Haubentaucher-Vögeln auch einige geflügelte Wesen in Menschengestalt finden. Und das nicht zu knapp. Meinen Schnappschuss wirst du dort natürlich nicht sehen, denn schließlich waren auf meinem Foto die Flügel gestutzt und dadurch wurde das Bild für meinen Instachannel schlicht und einfach absolut unbrauchbar.
POST 2: Get the party started
Genau, es geht um Instagram. Bevor ich mich weiter mit diesem Phänomen beschäftige, sollte ich vielleicht etwas über die Geschichte von Instagram schreiben. Aber eigentlich macht das wenig Sinn, da das Spannende heutzutage nicht die historischen Fakten des Unternehmens sind, sondern eher die Auswirkungen, die diese Plattform auf unsere Gesellschaft hat.
Trotzdem, hier in kurzer Abriss:
Am 6. Oktober 2010 wurde die von Kevin Systrom und Mike Krieger entwickelte Social Media Bilder-Plattform Instagram veröffentlicht. Also lieber Instagram-Influencer, der sechste Oktober ist dein Weihnachten, du solltest an diesem Tag deinem Schatzi ein Foto auf Insta schenken und dem wohlbekannten Kameralinsen-Logo huldigen.
Im Jahre 2012 wurde dann mal so richtig Cash gemacht. Facebook legte eine Milliarde Dollar auf den Tisch, um Insta zu kaufen. Wobei ein großer Anteil der Summe in Facebook-Aktien gezahlt wurde. Trotzdem, sicherlich kein schlechter Deal für die Gründer und wie sich inzwischen gezeigt hat, das gilt auch für Facebook.
Im Sommer 2016 erschien dann die mächtige Stories-Funktion auf Insta, die die Community feiern lies. Die Stories waren nicht neu in der Social Media Welt, denn Snapchat hatte es vorgemacht. Instagram handelte hier ganz offen nach der Devise „Gut kopiert ist halb gewonnen“.
2018 führte Insta IGTV ein, jetzt war Insta plötzlich auch noch eine Alternative zu YouTube, wo Livestreams schon länger möglich waren. Außerdem wurde die 1 Milliarde-Marke der aktiven Nutzer erreicht, nun gehörte Instagram zu den drei erfolgreichsten Social Media Plattformen der Welt (1. Facebook, 2.YouTube, 3. Instagram – wenn man Messenger Services wie WhatsApp nicht in die Betrachtung einbezieht).
Verwunderlicherweise hat Facebook immer noch mehr als doppelt so viele monatliche Nutzer – allerdings ist der Ruf der Plattform inzwischen ziemlich angeschlagen. Wenn man sich so umhört, ist Facebook eher zum Altenheim der Social Media Welt geworden. Denn wer Hip und Hop und Jung ist, der fasst das Gesichtsbuch nicht mehr mit dem Selfiestick an. Was soll’s, Marc Zuckerberg wird es egal sein, schließlich hat er so, mit seinem Konglomerat aus Social Media, die gesamte Altergruppe von 9-99 im Griff.
Aus dem Jahre 2019 gibt es noch keine besonderen Firmennews von Insta zu berichten. Schaut man auf die offizielle Firmenseite, dann fällt auf, dass 2019 vor allem Dinge hervorgehoben werden, die mit Datenschutz und Userschutz zu tun haben (außer das IGTV nun auch Querformat unterstützt …juhu).
Interessant vor allem der Hinweis zum Kampf gegen Online-Bullying. Tja …wer die Dämonen ruft ….
Wie oben schon kurz berichtet, ist Instagram die Plattform für junge Menschen. Tatsächlich sind laut einer Studie 60,4% der Nutzer zwischen 18 und 24 Jahre alt (Statista.com) und 90% der Nutzer sollen unter 35 Jahre alt sein (Science Daily). Bei Facebook sieht das etwas anders aus. Aber wer Facebook abgeschrieben hat macht einen Fehler, denn Facebook wächst auch immer noch, u.a. im asiatischen Raum und auch bei den Silver Surfern ab 60.
Ich bin zwar noch kein Silver Surfer, fühle mich allerdings häufig so, wenn ich mal wieder meine Insta-App öffne. Wow, alles so schön bunt hier, wo sind die normalen Menschen? Ich bin weder Beauty-, Fitness-, Fashion- oder Mommy-Blogger und weiß deswegen auch nicht so richtig was ich posten soll. Meine Bilder sind zu ordinär und lassen sich auch nicht mit den zahlreichen coolen Filtern schöner machen. Tja, dumm gelaufen für mich, ich glaube mit einem monetären Influencer-Income klappt es bei mir nicht mehr.
POST 3: The Beautiful People
Ich erinnere mich noch gut an die OMR 2019 in Hamburg. Irgendwann mittags schlug ich in den Messehallen in Hamburg auf und schaute mich um. He, das war krass und fast wie im Haubentaucher. Nur schöne, coole und hippe Menschen und ich fühlte mich irgendwie seltsam, fast so, als ob man aus Versehen im falschen Club gelandet ist und man dann feststellen muss, dass man mit hormongesteuerten Teenies eher nicht mehr viel gemeinsam hat.
Die einzigen Menschen die auf den ersten Blick nicht wie allzeit für Instagold bereit aussahen, waren die Aussteller von so langweiligen Firmen die Shop-Lösungen oder Datenanalyse-Tools anboten.
Manchmal bildeten sich aufgeregte Trauben, weil irgendein schöner Mensch durch die Hallen wandelte und wohl zur Spezies der bekannten Influencer gehörte.
Lustig allerdings wurde es, als ich in diversen Vorträgen feststellen musste, dass Menschen ab 40 nicht mehr zielgruppenrelevant sind. Hat mich etwas gewundert, da Menschen ab 40 Jahren doch eigentlich häufig ne Menge Cash verdienen, das dringend wieder in den Geldkreislauf zurückgeführt werden muss.
Noch besser wurde es aber, als immer wieder betont wurde, dass man Erfolg im Social Media Bereich hat, wenn man (bitte das nächste Wort Englisch aussprechen) real ist.
Fynn Kliemann gab diesen Tipp u.a. in einem Live-Interview mit Joko Winterscheidt den im Publikum sitzenden Nachwuchs-Influencern und ich war doch sehr verwundert.
REAL? (hast du dieses Wort eben englisch ausgesprochen? Falls nicht bitte noch einmal lesen und Englisch aussprechen). Was ist auf Insta oder auf vielen anderen Social Media Plattformen (bitte das nächste Wort Englisch aussprechen) real?
Ich möchte mal behaupten, real is no deal. Mal ehrlich, das ist doch eine Selbstlüge, die das Gewissen beruhigt beziehungsweise, um die Rolle, die man für die Follower nach außen eingenommen hat, vor sich selbst zu rechtfertigen.
Nichts gegen Fynn Kliemann, cooler Typ, der womöglich wirklich so ist, wie er ist. Aber die anderen „Social Media Experten“, die so etwas behaupten, sollten aufhören so einen Stuss zu reden.
Es ist nun wirklich nicht natürlich in einem weißen Kleid mit einem Kind auf dem Arm durch ein blühendes Lavendelfeld in Frankreich zu laufen. Es ist auch nicht natürlich in einem Bikini in einem Sonnenblumenfeld herumzustehen. Es ist schon seltsam, wenn Essen immer aussieht wie ein Gemälde und noch unnatürlicher ist es, immer total geil auszusehen.
Den Vogel schießen die ganzen Mami und Papi Blogger ab. Ach du schöne Familienwelt, ach du schöne Mutter, ach du wunderschöner Muskelpapa, ach du meine Güte und diese wunderbaren Kinder in den süßen Klamotten in dem traumhaften Haus/Urlaub/Garten und diese gesunde Ernährung. Sorry Leute, ich muss es sagen, FUCK U!
Macht was ihr wollt, aber inszeniert nicht eure Kids for Klicks.
Die Bloggerin Toyah Diebel hat sich diesem Thema angenommen und ein spannendes Projekt gestartet. Unter dem Hashtag #deinkindauchnicht oder auf der Webseite deinkindauchnicht.org kann man sich das Ergebnis anschauen, lustig und verstörend zu gleich.
Was kann Instagram dafür? Nichts!
Menschen brauchen Anerkennung und Instagram ist eine gute Plattform diese zu bekommen. Gleichzeitig wird durch die vielen Bilderlügen gerade auf die jungen Nutzer ein gesellschaftlicher Druck aufgebaut, dem nur schwer gerecht zu werden ist. Kannst du nicht mithalten, bist du raus. Das Ergebnis ist das oben schon erwähnte Online-Bullying. Natürlich ist Mobbing nicht neu, die Online-Welt macht es nur dynamischer. Ein Hate-Kommentar ist eben schnell geschrieben und Anwendungen wie Tellonym, die Kids gerne in ihrer Insta-Bio verlinken, machen es noch einfacher, die User anonym zu beschimpfen.
Das Leben der Influencer ist schön und wenn dein Leben nicht so schön ist, dann hast du ein Problem, nicht nur in der echten Welt, sondern auch online.
Den Traumberuf Influencer kannst du dann vergessen, na ja vielleicht geht dann ja immer noch Game-YouTuber oder Twitcher.
POST 4: idontwannabeyouanymore
Ich frage mich ja immer, was machen die Family-Blogger bloß, wenn ihre Kinder groß werden und keinen Bock mehr auf Familienbilder haben? Vielleicht leiht man sich dann Kinder aus? Es gibt nicht wenige Menschen, die durch die Instagram-Einnahmen ihr Leben bestreiten und in solchen Fällen sollte man eine Alternativlösung bereit haben. Vielleicht wird man dann Fitness-Blogger oder Food-Blogger, der Druck wächst.
Man könnte es natürlich auch so machen wie die sehr erfolgreichen Harrisons. Sarah Harrison (vorher Nowak) und Dominic Harrison sind u.a. Fitness-Blogger und nachdem Sie sich kennen gelernt hatten, wurde die Liebe auf Insta inszeniert und da inzwischen auch ein Kindlein geboren wurde, sind die beiden nun eben auch Family-Blogger.
Mitte August 2019 haben Sarah in Love und Dominic geheiratet, ein zweites Mal, denn eigentlich sind die beiden schon seit 2017 vermählt. Diesmal wurde die Traumhochzeit allerdings live auf Insta inszeniert und auch gestreamt und Millionen Menschen schauten zu. Ich finde, da könnte man auch noch ein drittes und viertes Mal heiraten, lohnt sich bestimmt.
Team Harrison hat einfach alles richtig gemacht, es ist halt immer gut, mehrgleisig zu fahren.
Meine Lieblingsmommybloggerin ist übrigens die Zwillingsmami Janine Wiggert. Checkt ihren Insta-Channel aus, mehr Realness geht nicht.
Wie auch immer, ich kann mir hier die Finger wund tippen, Instagram funktioniert und nur das zählt. Insta liefert für viele Menschen die Rosamunde Pilcher Schmonzette der Neuzeit, nur mit Werbung drin.
Eine Untersuchung des Bundesverband Digitale Wirtschaft(BVDW) zeigt, dass gut jeder Fünfte schon aufgrund von Aussagen eines Influencers Produkte gekauft hat. Je jünger das Publikum, des höher der Anteil der Käufer. Die Zielgruppe, die am Besten durch Influencer Werbung gecatcht werden kann, liegt laut der Studie bei den 16- bis 24-Jährigen.
Nun ziehen aber langsam doch etwas graue Wolken am Werbehimmel auf. Immer mehr Firmen sehen, dass die Produktplatzierungen in den bezahlten Posts der Influencer teilweise sehr fragwürdig sind.
Es gibt so unglaublich absurde Beispiele von Produktplatzierungen, einfach zum kringelig lachen. Die Suchmaschine deiner Wahl wird dir einige lustige Beispiele liefern wenn du nach „Instagram Werbe Fails“ suchst oder du checkst unsere Cyte Webseite, dort haben wir einige Beispiele verlinkt.
Noch problematischer wird es, wenn Influencer ihre Abonnenten gekauft haben. Ich erinnere mich noch gut an eine Dokumentation, in der einige Accounts von bekannten Influencern unter die Lupe genommen wurden und häufig signifikante Hinweise auf gekaufte Abonnenten und Klicks gefunden wurden. Als Anschub sind gekaufte Abonnenten häufig sehr beliebt. Die Follower eines Accounts bringen dem Influencer Lila, Para, Knete und das zählt im Endeffekt. Da scheint die Versuchung für einige Influencer groß, seinen Account für ein paar hundert Euro künstlich zu pimpen. Deswegen gehen immer mehr Unternehmen dazu über, Accounts genau unter die Lupe zu nehmen und zum Beispiel auch die Interkationen zu checken.
Was bringt eine Produktplatzierung, wenn die meisten Abonnenten nur Fakeprofile sind oder sich nicht für die Inhalte interessieren?
Insgesamt passt die ja ganz gut zur Fakeinalisierung vieler Accounts.
Deswegen wird der Ruf von vielen Unternehmen nach Natürlichkeit immer lauter. Einige haben ihre Strategie geändert und setzen inzwischen mehr auf Micro-Influencer, da diese häufig glaubwürdiger unterwegs sind. Die Marketingbranche sucht den Königsweg und torkelt zwischen Reichweite und Glaubwürdigkeit hin und her.
Für Marken ist Instagram inzwischen unverzichtbar und Firmen wie zum Beispiel „About You“ sind durch geschicktes Instagram-Marketing erst so richtig groß geworden.
Die Party ist noch lange nicht vorbei und wenn neue Zielgruppen Instagram für sich entdecken, wird es noch spannender. Denn Instagram macht auch Spaß und es gibt unzählige Accounts, die tolle Inhalte liefern.
Auch hier wirst du auf unserer Cyte Website fündig, dort haben wir die aktuellen Lieblingsprofile unserer Redaktion verlinkt.
REPOST: BROKEN WINGS
Ich werde mich nun erneut um Flügel kümmern. Den Haubentaucher vergesse ich einfach mal. Ich kaufe mir ein Gummihuhn mit Flügeln, ziehe mir einen Trainingsanzug von Kick an, nehme einen Besen der abstrakt einen Golfschläger darstellen soll und lege mich dann mit diesen Dingen leicht verdreht auf das Green eines Golfplatzes.
Mal ehrlich, mehr REAL geht nicht!!!!! (Achtung, Real bitte Deutsch aussprechen 😉 ).
CREDITS
Text: Moritz von Fulmenstöcker – Illustration: Oskar Nehry #oskkko