Buchkritik

Querwege

 „Paris, das mit seinen Geräuschen durchs Fenster hereinklettert, all das drängt sich mir plötzlich in seiner triumphierenden Realität auf …das Leben wird ein Armvoll liebenswerter Details auf riesigen Freudenfeuern“

 

Dabei ist Paris gar nicht ihr Lieblingsort. Vielmehr flüchtet sie aus Paris. Es wirkt als sei es ihr zu nervös, zu flüchtig, zu unverbindlich. Sie sucht ein Nest, einen Ort, an dem sie sich sicher und geborgen fühlt – ohne in ein unaufgeregtes, biederes Leben abzudriften. Dafür ist sie in ihrem Inneren zu wild, zu ungezähmt, dafür wütet in ihr zu sehr ein Sturm, der sie vor sich herschiebt. Querwege sind Wege, die steiles Land begehbar machen, es sind die Wege, auf an Hängen angelegten Terrassen. Also irgendwie der Versuch, eine Ordnung in die Wildnis zu bringen, die Natur zu zähmen, um sie fruchtbar zu machen. Albertine hört dieses Wort (Traversières) zum ersten Mal als sie zusammen mit ihrem Mann das fast zerfallene Haus in den Cevennen – mithilfe des „Onkels“ – erwirbt. Es fasziniert sie. Es zu zähmen. Vielleicht zähmt es auch sie. Dorthin ziehen sie sich zurück. Zwar lassen sie zunächst von ihrem Lebenserwerb nicht ab – Lou steigt nachts in Häuser ein, er ist ein Dieb – aber doch nur, um wenigstens das Nötigste zu haben. Und auch nur Lou. Nicht sie beide. Vielleicht hat sie Lou etwas angestachelt.

 

Der Verlag meldet sich endlich, nach Monaten des elenden Wartens, des ihn Verfluchens. Das ist das normale Leben, das Albe sucht

 

Und, er braucht es noch. Ein bisschen auch, um sich zu spüren „…der Diebstahl, das sind Augen an den Fingerspitzen im Handschuh, Augen in jeder Pore, Augen und zarte Flügel unter jedem Schritt“. Albertine, Albe schreibt. Schreibt an ihrem Baby. Kümmert sich um ihren Nachwuchs – der schließlich ihr Vermächtnis werden soll. Buchstaben, Worte, wilde Poesie in Prosaform. Und hat letzten Endes Erfolg damit! Ihr Buch wird verlegt. Der Verlag meldet sich endlich, nach Monaten des elenden Wartens, des verzweifelten Verfluchens. Das ist das normale Leben, das Albe sucht. Ist es das?

Zurück auf Anfang: Sie kommt gerade (wieder mal) aus dem Gefängnis, Lou sitzt noch. Dieses Mal soll es endlich gelingen. Sie will mit Lou, wenn er in einem Jahr rauskommt, ein normales Leben führen, ohne Diebstahl, ohne Alkohol, ohne die Lüste anderer Männer zu bedienen. Nur sie und ihr geliebter Lou – und ihre Hunderte von Zetteln, die sie während des Gefängnisaufenthalts beschreibt. Ihr Manuskript. Ihr Baby.

Sie macht sich daran, alles vorzubereiten, trifft auf alte Weggefährten, holt ihre Sachen bei Freunden ab – und sieht, wie sie nicht mehr leben möchte, was sie endlich hinter sich lassen möchte. Sie fühlt sich bestohlen und verraten: „Bei Jac und Liliane – meinen Freundinnen, meinen Hoffnungen von vorgestern – habe ich nur Verrat und Trostlosigkeit gefunden; nicht meine Schuld, wenn ich in punkto Niedertracht etwas zurückgeblieben bin und Nachhilfestunden bezahlen muss.“

 

Lässt sich etwas umsorgen und bemuttern, gerade so, dass Mother sich immer ein wenig schlecht fühlt

 

Und selbst wenn das bürgerliche Leben, das ihr vorschwebt langweiliger und von weniger Reizen geprägt sein sollte, es ist der richtige Weg, es ist das, was sie will – auf ihre Art. Nur muss man sich daran auch ersteinmal gewöhnen, das geht nicht von jetzt auf gleich, das Anständige. So klaut sie noch ein bisschen, trinkt noch ein bisschen. Ersteres nicht weil sie es bräuchte, nur so, um sich ein wenig zu rächen. Letzteres um zu schlafen, um die Zeit rumzukriegen bis Lou endlich entlassen ist. Sie besucht auch doch noch ihre Mutter, von Lou „Mother“ getauft, was dafür sorgt, die Distanz auszudrücken, die Albe verspürt. Lässt sich etwas umsorgen und bemuttern, gerade so, dass Mother sich immer ein wenig schlecht fühlt die Adoptivtochter nicht beschützt zu haben vor dem brandigen Atem des Alten, des Adoptivvaters.

Und dann, als Lou endlich da ist, kaufen sie das Haus. Ihr Haus. Mit Onkels Hilfe. Sie sind schockverliebt. Auch wenn es eher einer Ruine gleicht. Die Wände haben Löcher, das Dach ist undicht, der Mistral schleicht sich wispernd durch alle Ritzen. Sie arbeiten wochen-, monatelang, um es wieder zu einem Haus werden zu lassen. Machen alles selbst, vor allem Onkel und Lou. Denn Albe muss sich auf ihre Schwangerschaft konzentrieren, auf ihr Baby, das in der Schreibmaschine wächst und gedeiht.

Da sind noch weitere Episoden, die den autobiographischen Roman leben, beben lassen. Aber es ist vielmehr die Sprache, die ihn zu einem atemlosen Run durch Albes – kurzes – Leben macht.

 

Albertine Sarrazin starb 1967. Aber nicht als Folge ihres Lebensweise, sondern als Folge eines Kunstfehlers während einer Operation. Der Anästhesist hatte einfach nicht sauber gearbeitet, ihr eine Narkose verabreicht, ohne auf ihr Gewicht, ihr Alter, ihre Blutgruppe oder irgendetwas, das Albertine ausmachte, zu achten. Da war sie neunundzwanzig. Der Anästhesist wurde zu zwei Jahren verurteilt. Nur.

Albertine Sarrazins spanische Mutter war fünfzehn, als die Tochter 1937 zur Welt kam. Ihr Vater, der letztlich keine Rolle spielen sollte, ein Algerier. Sie verbringt ihre Kindheit in Waisenhäusern, dann in einer Adoptivfamilie, in groben Verhältnissen. Das zarte Mädchen erfährt früh psychische Gewalt und Vergewaltigung. Albertine schreibt drei Romane. Fast alle in Gefängnissen. Alle drei sind autobiografisch alle drei werden Erfolgsromane.

 

Simone de Beauvoir wurde auf sie aufmerksam, bekam Seiten, die Albertine im Gefängnis geschrieben hatte und über ihre Anwältin nach draußen hatte schmuggeln lassen in die Hände und setzte sich für sie ein. Patti Smith nannte sie ihre Lebensleitfigur, „die kleine Heilige der schreibenden Außenseiter“.

 

Erst als es in das letzte Drittel ging. Da fing ich an, mich wohl zu fühlen

 

Ich mochte das Buch erst nicht. Habe den Anfang gar nicht verstanden. Was soll das mit dem Adoptivvater, der irgendwas von „wir sind zu alt“ redet, vor Gericht. Was soll das mit der Zwiebel, um vor Gericht Tränen fließen zu lassen. Diese ganzen Bilder, mit denen ich nichts anzufangen weiß. Das ist doch wirr, was will sie denn von mir? Nach fünfzehn Seiten habe ich dann die letzten Seiten aufgeschlagen, auf der Suche nach dem Nachwort, nach einer Erklärung. Und dann stand da „Zwischen August und November 1966 …“ Damit war für mich plötzlich alles klar. Ich wusste plötzlich die Sprache zu lesen. In meinem Kopf hat es Klick gemacht. Ich mochte das Buch da immer noch nicht. Lange nicht. Erst als es in das letzte Drittel ging. Da fing ich an, mich wohl zu fühlen. Seit dem lese ich immer wieder einfach so ein paar Seiten oder auch nur ein paar Zeilen. Weil es schön ist. Weil es eine so wunderschöne Sprache hat und weil so viele krude, krause, wilde, schlichte Gedanken darin stecken, die mich rühren, die ich in mir finde – oder meine zu finden, nachdem ich sie bei ihr gefunden habe.

LESEN!

 

 

Titel: Querwege, geschrieben 1966

Autorin: Albertine Sarrazin

Übersetzerin aus dem Französischen: Claudia Steinitz

Verlag: INK PRESS, Zürich, 2019, 228 Seiten

 

AN JO:

AutorenBild: https://www.nzz.ch/feuilleton/albertine-sarrazin-wurde-von-simone-de-beauvoir-gefoerdert-ld.1509044

Photograph: Philippe Le Tellier / Paris Match / Getty

 

 

 

Text: Henrike Heick