Sandra Groll

Enttäuschungssyndrome 

 

Über mediale Wunschproduktionen, emotionalisierte Konsumversprechen, ein überromantisiertes Bild von Paris und was eigentlich Geld damit zu tun hat.

 

Tourist*innen finden sich auf den lang ersehnten Reisen oftmals in einem befremdlichen psychosomatischen Zustand wieder. Sie leiden unvermittelt an einem psychischen Ausnahmezustand, der als Paris-, Jerusalem-, New-York oder Florenz-Syndrom verschiedene Ausdrucksformen annehmen kann. Die jeweiligen Syndrome machen sich in Form von Panikattacken, depressiven Verstimmungen, Schamgefühlen, Wahnvorstellungen und Aggression bemerkbar, auch irrationale Schuldgefühle, Bußrituale und andere Dissoziationen können auftreten. Je nach kultureller Herkunft der Reisenden entzünden sich die Symptome jedoch an unterschiedlichen Triggern und treten dann fast ausschließlich bei bestimmten Gruppen auf. Das Paris-Syndrom zum Beispiel scheint fast ausschließlich Reisende aus Japan zu befallen. So unterschiedlich die Syndrome gelagert sind, ihr gemeinsames Merkmal ist: sie treten als Begleiterscheinung des modernen Massentourismus und der Konsumgesellschaft auf und scheinen sich zu verstärken, je ästhetisierter sich diese Gesellschaft präsentiert. Dass unser Alltag in einem hohen Maße von hochgradig ästhetisierten Produkten und Dienstleistungen fast vollständig durchsetzt ist, dürfte bekannt sein. Weniger offensichtlich ist hingegen, dass die Ästhetisierungen von Design und Werbung nicht nur für schöne, funktionale und begehrenswerte Dinge sorgen, sondern durch diese auch auf unseren Emotionshaushalt und unsere Psychen zurückwirken und das eben nicht immer so wie eigentlich gewünscht. So auch im Fall der Städtereisensyndrome. Im Falle der japanischen Tourist*innen ist wohl ein, in Werbung, Medien und japanischen Kultur vorherrschendes, überromantisiertes Bild von Paris ursächlich dafür, dass es die Tourist*innen in Paris mit einer nur schweraushaltbaren Diskrepanz zwischen idealisierter und erlebter Realität zu tun bekommen und dann die entsprechenden Symptome zeigen.

Es gibt auch eine Reihe anderer Unannehmlichkeiten, die die konsumästhetisch geprägte Fiktion beenden

Hinter diesen Syndromen verbirgt sich jedoch ein grundlegenderes Phänomen nämlich eine Erwartungsenttäuschung, die mit der fortgeschrittenen ästhetischen Ökonomie der Gegenwart einhergeht. Sprich, wir haben uns daran gewöhnt, dass Design und Werbung nicht nur Dienstleistungen und Angebote gestalten, sondern Erlebniserwartungen inszenieren und dass der Gebrauch des eher unsinnlichen Medium ‚Geld‘ den Zugriff auf genau diese Erwartungen sichert. Wir erwarten – und unsere Erwartungen sind dabei in vielfältiger Weise bereits durch andere Konsumangebote designt – ein ganz bestimmtes Erlebnis von der Reise, vom Zielort, von uns selbst und von anderen auf dieser Reise. Schließlich haben wir Zahlungen geleistet und da kann man schon erwarten, dass sich das gewünschte Erlebnis vollumfänglich so realisiert, wie wir es erwarten. Wir verhalten uns zur Wirklichkeit im Modus des Konsums und in der Erwartungshaltung von Konsumierenden, die sich mittels Zahlungen den Zugriff auf ganz bestimmte Angebote gesichert haben.

Das ‚Paris‘ ist in unseren Köpfen eben nun einmal auch gestaltetes und kommuniziertes Konsumversprechen, das aber an der Wirklichkeit scheitern muss, denn das reale Paris umfasst nun einmal auch Pariser*innen, denen man bekanntlich einen etwas raueren Umgang mit Tourist*innen nachsagen kann. Und es gibt auch eine Reihe anderer Unannehmlichkeiten, die die konsumästhetisch geprägte Fiktion beenden und kurzen Prozess mit den romantischen Erwartungen machen. All das sorgt dafür, dass aus dem fiktiven, fein entworfenen Sehnsuchtsort und Konsumort ‚Paris‘ wieder ein höchst realer überfordernder Komplex aus Zumutungen wird. Genau diese Fiktionsenttäuschung – oder besser: dieser Realitätskontakt – führt dann zu den entsprechenden psychosomatischen Auffälligkeiten.  

Die Verkettung individueller und medialer Wunschproduktionen, professionell gestaltete und emotionalisierte Konsumversprechen, plötzlicher Realitätskontakt und Psychokrise, scheint mittlerweile ein Phänomen zu sein, das sich in der ästhetischen Konsumgesellschaft mit Wachstumsorientierung in verschiedenen Abstufungen und Phänomenen an vielen Orten zeigt. Ein strukturell ganz anders gelagertes Phänomen spielt sich zum Beispiel auf den deutschen Autobahnen ab. Auch hier hat man es im weitesten Sinne mit einem Designproblem zu tun. Die nun schon seit Jahren das Automobildesign dominierende Formensprache von ästhetisch gesteigerter Sicherheit im Inneren und sportlicher Dynamik mit leicht aggressiven Zügen nach außen, sorgt für die Erwartung, irgendwie schneller und überlegener zum Ziel zu kommen und dabei Freude am Fahren zu empfinden. Das kann natürlich nicht klappen und führt zu ähnlich irrational-emotionalen Ausreißern, schrägen Verhaltensweisen und emotionalen Überforderungen, wie das in Wirklichkeit nur wenig romantische reale Paris.

Man hat es mit einer Designkrise zweiter Ordnung zu tun, denn der im und durch das Konsumangebot versprochene Mehrwert oder Zustand der Welt und des Selbst will sich nicht so recht einstellen. Schlimmer noch, wir müssen uns der Erkenntnis stellen, dass die schönen Bilder und Szenarien, die durch Werbung und Produktdesign so wunderbar mehrdimensional an unsere individuellen Wünsche, Erwartungen und Bedürfnisse anschließen und im Diesseits Erlösung von was auch immer versprechen, in letzter Konsequenz enttäuschen. Das Problem ist nicht nur unsere Erwartung und ihre Pseudobefriedigung durch Konsumangebote, die ganz nebenbei auch eine ganz bestimmte, nicht intendierte Variante von Wirklichkeit gestalten, sondern die durch Geldkommunikation zusätzlich vermittelte Erwartung, dass das, was das designte Angebot verspricht, auch so eintrifft. Wie versprochen.

Das Mehr! bildet den Resonanzkörper einer wachstumsorientierten Ökonomie und speist sich aus Transzendenzbedürfnissen

Dies geschieht anscheinend, weil wir uns kollektiv auf einer Sinn- und Sinnlichkeitssuche befinden, die scheinbar nur durch eine Form von Konsum zu stillen ist, in der es darum geht stets Mehr! zu bekommen. Mehr Sinn, mehr Sinnlichkeit, mehr Romantik oder eben mehr Geschwindigkeit und mehr Souveränität. Dahinter steckt ein psychisches und emotionales Resonanzbedürfnis, das in der modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft nicht befriedigt wird, da an die Stelle echter Resonanzen funktionale Äquivalente, wie zum Beispiel das Geld getreten sind.[1] Diese Entwicklung verdankt sich nicht allein einer kapitalistischen Weltverschwörung, sondern in einem erfolgreichen Ineinandergreifen von psychischen, sozialen und kulturellen Prozessen, die sich wechselseitig stabilisieren und in einer wachstumsorientierten Gesellschaft und entsprechend enttäuschungssensiblen Individuen münden.

Das ‚Mehr!‘ ist das eigentliche Problem, denn es ist zunächst einmal gesichts- und gegenstandslos und wird begleitet von einer emotionalen Sehnsucht, die bereit ist, sich von Angeboten verzaubern zu lassen. Es bildet den Resonanzkörper einer wachstumsorientierten Ökonomie und speist sich aus Transzendenzbedürfnissen. Erst im Medium von Bildern, Narrativen und Design, findet dieses Mehr! überhaupt erst ein Ausdrucksmedium. Im Kern mischen hier soziale und psychologische Bedürfnisse mit, deren Befriedigung früher in den Bereich der Religion fielen und dort auch bedient wurden, nämlich Unsicherheitsabsorption und Kontingenzausschaltung. In der Gegenwart einer postindustriellen Konsumgesellschaft bleibt als Antwort auf individuelle und kollektive Sinnsuchen nur der Konsum von ästhetisch und funktional möglichst zugeschnittenen Dienstleistungen und Angeboten, die uns da abholen wo wir bereits stehen. Dass es eine Verbindungslinie zwischen kapitalistischer Ökonomie, Konsum und Religion[2] gab und gibt, ist bereits ebenso gut dokumentiert, wie die  psychosomatischen Muster, die im Hintergrund wirken.[3]

Ähnlich wie in früheren Zeiten die Religion und der Mythos, ist auch die Ökonomie der Gegenwart darauf angewiesen durch ästhetischen Budenzauber dem Mehr! einen Ausdruck zu verleihen. Allerdings geht es hier nicht um Heilsversprechen und eine einheitliche Deutung der Welt im Rahmen einer Kosmologie sondern darum, durch sinnliche und funktionale Steigerungen Attraktivität herzustellen und Zahlungen zu realisieren. Und am Ende geht es darum: um Zahlungen und zwar Geldzahlungen. Wer eine Zahlung anbieten kann, erhält Zugriff auf ein knappes Gut und zwar in Absehung aller weiterer Bedingungen, etwa des gesellschaftlichen Standes, der körperlichen Verfasstheit oder der Bereitschaft Gewalt auszuüben. Wer dies nicht kann, kann auch keinen Zugriff auf diese Güter beanspruchen. Niklas Luhmann[4] hat dies in eine schöne Form gebracht, nämlich das Geld sowohl ein symbolisches und diabolisches Medium sei. Symbolisch indem es verbindet und diabolisch indem es trennt. Mit einem solchen Medium lässt sich der Zugriff auf knappe Ressourcen recht friedlich organisieren, denn es entlastet von „Menschlichkeiten wie Hass und Gewalt.“[5]Mittels Geld lässt sich so der eigene Mehr!-Anspruch durchsetzen.

Und das Beste am Geld: es ist zähl- und sammelbar.

Allerdings kann Geld, als Medium von Kommunikation mittels Zahlungen noch mehr, es entbindet von der Notwendigkeit ein Gut sofort gegen ein anderes zu tauschen. Das bedeutet: man muss sich nicht sofort entscheiden und kann Erwartungen bilden. Damit bietet Geld die Möglichkeit Zugriffe aus Gütern von der aktuellen Situation zeitlich, sozial und thematisch unabhängig werden zu lassen mit dem Ergebnis, dass mit seiner Hilfe alles Mögliche erreichbar wird. Auch dies eine Form von Steigerung und damit ein Mehr!. Und das Beste am Geld: es ist zähl- und sammelbar. Wird es gesammelt, entstehen Summen oder besser, ein Potential, das mehr und größere Zugriffe ermöglicht. Wenn man sich hier geschickt anstellt, lässt sich dies ebenfalls wieder in Geld übersetzen. And so on. Man muss bei all dem nur ein recht einfaches Rezept verfolgen: Mach mehr Geld.

Das gesichtslose Mehr! steckt somit nicht nur in unseren haltlosen Psychologien, den Strukturen der Konsumgesellschaft, sondern auch grundlegen in der Logik des Geldes. In der Logik des Geldes verbirgt sich jedoch auch ein Weniger!. Auch wenn dieses Weniger! nicht den positiven Wert einer Wachstumsgesellschaft bildet, ist es doch unverzichtbar. Denn damit diese Ökonomie funktionieren kann, bedarf es Knappheiten, also weniger Ressourcen und Gegenstände als Zugriffswünsche. Nur so lässt sich das Mehr! realisieren. Bereits im 19. Jahrhundert wurde deutlich, dass Knappheit selbst zu einem knappen Gut werden kann und dass nun neue Knappheiten erschlossen werden müssen. Nicht ohne Grund fällt die Geburtsstunde von Design und Werbung in diese Phase. Sie erschließen nach und nach die emotionale und psychische Bedürftigkeit des Menschen, in dem sie ästhetisch gesteigerte Sinnangebote machen, die zu neuen Knappheiten führen und Kapitalbildung antreiben. Sie arbeiten an der Verzauberung der Welt und an den konkreten Erscheinungsformen unserer Erwartungen. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts ist der Übergang in eine ästhetische angetriebene Ökonomie dann vollzogen, mit dem Ergebnis, dass man nun mehr im Alltag auf Angebote trifft, die unstillbare „Begehrnisse“[6] erzeugen, obwohl sie vorgeben, Bedürfnisse zu befriedigen. Dass diese dann an den jeweiligen Wirklichkeiten scheitern ist ein willkommener Impuls, der Wachstumseffekte aller Art in Gang setzt. Die Enttäuschung ist damit schon in die Dinge eingeschrieben. Am Ende mündet dies zwar in einer permanenten Spirale aus Erwartung und Enttäuschung und führt dabei zu den eingangs beschriebenen Symptomen, mündet dann aber nicht darin, dass man auf einen Postwachstumskurs einschwenkt, sondern in all den kleinen Alltagspsychosen, die sich aus dem oszillierenden Verhältnis von Mehr! und Weniger! ergeben.

 

Literaturverzeichnis

 

Baecker, Dirk (2003); Kapitalismus als Religion, Aufl. 2009, Kadmus Verlag, Berlin,

Baudrillard, Jean (1970); Die Konsumgesellschaft. Ihre Mythen, ihre Strukturen, 2015, Springer Verlag,

Böhme, Gernot (2016); Ästhetischer Kapitalismus, 2. Aufl. 2016, Suhrkamp Verlag, Berlin,

Bolz, Norbert (2002); Das konsumistische Manifest, Wilhelm Fink Verlaf, München,

Luhmann, Niklas (1988a); Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1.Aufl. 1994, Suhrkamp, Frankfurt am Main,

Rosa, Hartmut (2016); Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 7. Aufl. 2017, Suhrkamp Berlin,

Weber, Max (1904); Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Berliner Ausgabe 2016, 4. Auflage, Holzinger Verlag,

[1] Rosa, Hartmut (2016); Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung

[2] U.a.: Weber, Max (1904); Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Baecker, Dirk (2003); Kapitalismus als Religion

[3] Baudrillard, Jean (1970); Die Konsumgesellschaft. Ihre Mythen, ihre Strukturen

[4] Luhmann, Niklas (1988a); Die Wirtschaft der Gesellschaft, S.258.

[5] Bolz, Norbert (2002); Das konsumistische Manifest,S.37.

[6] Böhme, Gernot (2016); Ästhetischer Kapitalismus

MEHR?

WENIGER!

Text: Sandra Groll #s_groll

Illustration: Oskar Nehry #oskkko