TITEL: LIVE vs. DIGITAL

 

 

Endlich geht der Sommer und das Leben wieder los. Willkommen zurück, Du schöne Unbeschwertheit. Wir alle stürmen nach draußen – in die Parks, Bars und Restaurants. Genießen, in vollen Zügen! Was? Das Leben!

…und die Musik! Warum also eine klassische Plattenkritik? Können wir das nicht irgendwie kombinieren – Musik, Live-Konzerte, Lebensgefühl?!

Die Auswahl der Bands überlasse ich mehr oder weniger dem Zufall, entscheidend ist: wer spielt wann, wo, und gibt es überhaupt noch Tickets? Denn diese sind (coronabedingt) begrenzt, die Lust und Vorfreude an Live-Events umso größer.

Das Resultat findet Ihr unten… drei spannende und noch recht unbekannte Bands. Allen dreien ist gemeinsam: es hat Spaß gemacht ihnen zuzuhören, zuhause im Wohnzimmer und live zusammen mit anderen.

Also lest und hört rein – und vielleicht überkommt Euch ja auch noch der Wunsch, diesen Herbst mit Live-Musik ausklingen zu lassen.
Viel Spaß!

 

 

Dänische Jazzklänge

GIRLS IN AIRPORTS // DIVE

 

Girls in Airports. Hört sich nach einer englischen Indie-Girl-Band an. Nicht ganz …das Quartett aus Kopenhagen – bestehend aus den Musikern Martin Stender (Saxofon), Mathias Holm (Keyboard), Victor Dybbroe (Percussion) und Anders Vestergaard (Schlagzeug) – verbindet Jazz mit diversen Stilrichtungen – von Pop, Experimental, Folk, Rock bis hin zu afrikanisch inspirierten Rhythmen und psychedelischen Klängen. Und schafft so einen einzigartigen Sound. Kennt Ihr nicht? Dann ist es höchste Zeit, das zu ändern.

„Sunshine on Fish Skin“ von dem Album Kaikoura ist mein erster Berührungspunkt mit Girls in Airports. Ruhig, verträumt und trotzdem eindringlich. Keyboard und Saxofon verschmelzen auf perfekte Weise miteinander. Wenn man die Augen schließt und den Klängen lauscht, kann man sich das vielfarbige Schimmern von Fischhaut bildlich vorstellen. Und fühlt sich sofort an Strand und Meer versetzt.

Umso schöner, als ich dann erfahre, dass Girls in Airports im Sommer nach Hamburg kommen und im Rahmen des Jazzhouse Open-Airs auf dem KNUST Lattenplatz spielen. Das allein ist schon toll. Noch besser, wenn es das erste Konzert nach anderthalb Jahren Corona ist. Sommer, Sonne, Jazz und ein Drink in der Hand – sign me in.

Zuletzt war die Band vor drei Jahren in Hamburg und präsentiert nun in neuer Besetzung Stücke aus dem aktuellen Album „Dive“, über das die Band selbst sagt:

»The new album is a further development of the band’s genreless sound but includes more extravagant passages and psychedelic moods. The music takes compositional wanderings in the mind and opens up an existential abstraction that mirrors how the five band members in the encounter with the music dive into something greater than themselves and transcend from an ‘I’ to a ‘We’.« (Quelle:https://www.knusthamburg.de/programm/girls-in-airports/)

„Icicle“ lässt mein Herz schneller schlagen, wirkt geheimnisvoll, vielleicht sogar etwas bedrohlich. „Collision“ kommt ganz anders daher – leichter, schneller und mit hörbaren afrikanischen Einflüssen. „Weaver“ – mein Lieblingssong vom Album – ist kraftvoll-atmosphärisch mit psychedelischen Elementen. „Dive“ ist eine intensive Platte. Keine Easy Listening und Hintergrund Musik.

Mitte Juli am frühen Abend dann das Konzert. Draußen und bei schönstem Sommerwetter beginnen die vier Jungs zu spielen. Die Stimmung ist entspannt – man merkt: endlich ist Sommer, endlich wieder unter Leuten, endlich wieder Live-Musik. Was mir beim Alleinhören zuhause teilweise zu viel war, wirkt hier genau richtig. Anspruchsvoll, ja. Dabei aber doch irgendwie gelassen und auf schöne Weise entrückt – der perfekte Auftakt für einen seit langem herbeigesehnten Konzertsommer 2021.

 

 

Indietronic aus Leipzig

ELEPHANTS ON TAPE // EVERY STRUCTURE’S DISLOCATED

 

Ein Tag später in Leipzig …die Sommerbühne am Panometer startet mit einem kleinen, aber feinen Auftakt in die Open-Air-Saison. Mit dabei, die Leipziger Indietronic/Dreampop-Band Elephants on Tape. Die Location ist einzigartig. Ein ehemaliger Gasspeicher – mittlerweile Ausstellungsort und Eventlocation unter freiem Himmel. Die Stimmung ist entspannt, kleine Grüppchen stehen zusammen mit Bier in der Hand. Ganz so viele Konzertgänger haben sich an diesem Abend nicht eingefunden – vielleicht liegts an der Urlaubszeit, der enormen Hitze, den noch recht unbekannten Bands. Vielleicht ist aber auch noch nicht richtig in unseren Köpfen angekommen: ja wir dürfen wieder Kunst und Kultur genießen!

Die Sonne geht langsam unter, der Himmel über dem Industriedenkmal färbt sich in einem gleißenden blau. Elephants on Tape ist die letzte Band an diesem Abend. Markus Rom (Gitarre, Gesang, Synthesizer), Robert Gemmel (Synthesizer, Gesang), Lisa Zwinzscher (Gesang, Gitarre), Lukas Stodollik (Bass) und Hans Arnold (Schlagzeug) kommen auf die Bühne, die in lila-grünes Licht getunkt ist.

Die fünf haben die Band vor 9 Jahren in Weimar, wo sie an der Musikhochschule studiert haben, gegründet. Im Laufe der Jahre hat sich dann ihr Sound entwickelt – ein Mix aus Pop, Rock, Indie und elektronischer Musik. Sie selbst beschreiben ihren Sound als Weltraummusik mit detailverliebter Tiefe. „Narks“ ist Pop vom Feinsten mit einprägsamen Lyrics – „I am deep-see diving in an ocean of words from your mouth” – und leichtem Hang zum Melancholischen. Das Lied „Electrons“ – die zweite Single aus dem aktuellen Album „Every Structure’s islocated“ – ist deutlich elektronischer und handelt von der Verbindung zweier Menschen und der damit verbundenen Ähnlichkeit zu physikalischen Vorgängen. „Chaotic motion, every structure’s dislocated. Charged by the magnetic field that you created“. „Hyperactive” wirkt dagegen regelrecht jazzig, beginnt langsam und nimmt immer mehr an Intensität zu. Der Gesang von Lisa ist eindringlich und zugleich verletzlich – und löst bei mir Gänsehaut aus.

Melancholisch tanzbar – so würde ich den Sound der Fünf beschreiben. Und genau das haben wir dann auch gemacht. Getanzt! Draußen! Und uns über die zurückgewonnene Freiheit gefreut.

 

 

Deutsch-luxemburgischer Elektro-Pop

SAY YES DOG // VOYAGE

 

…wieder zurück in Hamburg. Diesmal auf der Reeperbahn im Molotow Backyard.

Im Molotow war ich schon öfter. Im Backyard – ein kuscheliger Hinterhof mit Bühne, Bar und Merch-Stand – diesen Sommer zum ersten Mal. Auch hier ist die Stimmung ganz entspannt. Was an den Corona-Bestimmungen liegen mag, denn man wird vorne empfangen und einzeln platziert – ein Novum im Molotow. Um 20 Uhr betritt das Trio die Bühne. Aaron Ahrends schlendert ans Mikro, Pascal Karier an die Drums und Paul Rundel greift sich den Bass. Alle drei in Hawaiihemden, mit Schnurrbart – 80ies Nostalgia pur. An wen erinnert mich Aaron noch gleich? Endlich fällts mir ein – Magnum!

Die drei Jungs haben sich bei ihrem Musikstudium in den Niederlanden kennengerlernt. Die Gründung der Band war aber eher ein Zufall und vor Jahren die einzige Möglichkeit, um an die heißbegehrten, aber limitierten Fusion-Tickets heranzukommen. Die Jungs bewarben sich um einen freien Slot im Festivalprogramm und kreierten fürs Set ihre ersten eigenen Songs – Say Yes Dog waren geboren.

Seitdem hat sich viel getan. 2015 erscheint das Debütalbum „Plastic Love“, das viel Aufmerksamkeit und gute Kritiken erhält. Die drei gelten fortan als Geheimtipp. Es folgen Konzerte und Festivalauftritte in Deutschland und weltweit. 2019 erscheint ihr zweites Album „Voyage“. Inspiriert vom 80er Jahre Sound, aber auch von ihren Reisen und Erlebnissen in der Ferne. Wie der Titel „Voyage“ unschwer erahnen lässt. Beide Platten sind elektronischer Indie-Pop, „Voyage“ überrascht aber mit einem verfeinerten Sound, analoger und noch melodischer. Wunsch war es, mehr nach einer Band zu klingen und weniger nach einem DJ-Kollektiv. Das haben die Jungs geschafft!

„Lies“ ist einer ihrer bekanntesten Songs und begeistert mit Synthesizer, Gitarrensolo und eingängigem Rhythmus. „The Same“ – letztes Lied der Platte – ist eine Ballade, ohne großen Klimbim, auf das Wesentliche reduziert und dadurch noch intensiver und gefühlvoller. Mit „Deep Space“ geht’s raus ins Weltall – man kann die Reise ins Unbekannte, in die Schwerelosigkeit sofort hören und fühlen. Es ist wie ein Schweben durch Raum und Zeit getragen von der Musik des Trios… „we’re floating outwards into space.“

Abheben, tanzen – das möchte an diesem Abend jede/r im Backyard. Wäre da nicht das coronabedingte Tanzverbot. Ein merkwürdiges Gefühl, wie Aaron mehrfach an diesem Abend betont. Der Stimmung im Hof tut das keinen Abbruch und hält niemanden davon ab im Rhythmus der Songs mitzuwippen und mit einem beseelten Gefühl nach Hause zu gehen.

Text+Photos: Claudia Ippen