Der brasilianische Philosoph, Journalist und Komponist Vladimir Safatle veröffentlicht auf dem brasilianischen SESC Label sein neues Album Tempo Tactil.
Tunis, 2012, Lobby des Hotel Majestic. Vladimir Safatle sitzt am Klavier und spielt ein Stück von Philipp Glass. Vladimir tut das, was er immer tut, wenn irgendwo ein Klavier steht. Ich erinnere mich nicht an das Stück. Die wenigen Gäste in der Lobby des Hotels, zumeist Handelsreisende schauen kurz von ihren Handys und Computern auf, ein wenig irritiert. Es ist Januar und auch in Nordafrika ist es kalt und Winter. Wir sind unterwegs um ein Jahr nach dem Beginn der grossen Erschütterungen und Politischen Erdrutsche des sogenannten Arabischen Frühlings zu dokumentieren, an welchem Punkt auf dem Weg zu demokratischeren Strukturen sich diese Gesellschaften befinden. Die brasilianischen Tageszeitung Folha de São Paulo hat Vladimir beauftragt für eine Reihe grosser mehrseitiger Essays über die politischen Entwicklungen in Tunesien, Ägypten und Israel / Palestina zu berichten. In den späten 70er Jahren hatte Michel Foucault ähnliche Reisen für den Corriere della Serra in den Iran unternommen. „Der Geburt von Ideen und der Explosion ihrer Kraft muss man beiwohnen“ hatte Foucault damals gesagt. Bezug nehmend auf Foucaults Reportagen und Motivationen verbrachten wir drei Wochen damit, an Demonstrationen teilzunehmen, Politiker, Taxifahrer, Studenten, Professoren, Aktivisten und Wissenschaftler zu interviewen und die Stimmung in den Ländern aufzuzeichnen.
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Am nächsten Tag treffen wir salafistische Studenten an der Universität von Manouba. Ca 100 Studenten stehen bei ca 3 C° auf dem Campus, viele der Frauen mit Kopftuch oder Nikab. Sie stehen um einen Schultisch herum auf dem eine Liste liegt, in den sich die Studierenden eintragen können um vor der Gruppe zu sprechen. Ihr Kampf geht um die Erlaubnis des Tragens der Nqab und Vollverschleierung während des Studiums und der Prüfungen. Die Studienordnung verbietet dies und die vollverschleierten jungen Frauen werden nicht zugelassen. Wir mischen uns zwischen die Gruppe. Als sie erfahren, dass Vladimir Safatle Professor an einer grossen Universität ist bitten sie ihn, zu ihnen über das Verhältnis von Staat, Bildung und Religion zu sprechen. Sie erzählen, dass keiner ihrer Professoren bereit ist mit ihnen zu debattieren.
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Vladimir Safatle, in Chile geborener brasilianischer Philosoph, Schriftsteller und Musiker ist ordentlicher Professor im Fach Theorie der Humanwissenschaften an der Fakultät für Philosophie und Humanwissenschaften der Universität von São Paulo (FFLCH-USP). Safatle ist Gastprofessor an den Universitäten Stellenbosch (Südafrika), Louvain, Toulouse, Paris VII und Paris VIII.Er war in den letzten 10 Jahren Kolumnist der Tageszeitung Folha de S. Paulo. Im Moment schreibt er regelmässig für El Pais. Seine intellektuelle Produktion konzentriert sich auf die Bereiche Erkenntnistheorie der Psychoanalyse und Psychologie, politische Philosophie, dialektische Tradition und Musikphilosophie.
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Bereits als Jugendlicher hat Vladimir Safatle in Punk- und Wavebands gespielt. Wir befinden uns in Goiania, Hauptstadt des zentralbrasilianischen Bundesstaates Goias. 1988 oder 1989. Auf einem der ersten Konzerte der Band taucht Vladimirs Mutter auf und versucht den Teufel aus dem irrigen Tun des Sohnes auszutreiben. Sie stand also in echter ehrlicher Wirklichkeit auf der Bühne, hat der Band den Stecker gezogen und Laut in die gut gefüllte Aula gerufen: Weiche Satan, Weiche!!
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Vladimir Safatle ist der Sohn einer evangelikalen Mutter und eines Vaters, der als linker militanter Guerillia gegen die neofaschistischen Regierungen im Brasilien der 70er Jahre kämpfte und der sich später in der Politik engagierte. Safatle spricht von einer schizophrenen Sozialisation, die er erfahren habe. Was seine Eltern vereinte war die Überzeugung, dass die Welt eine falsche ist. Und: der Glaube an die Kraft des Wortes . Sie sprachen eigentlich nie miteinander….
So weit, so symbolkräftig.
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Es ist eine eigentümliche Klangwelt, die Safatle da erschafft. Und weil ich kein Musiktheoretiker bin versuche ich schon garnicht das einzuordnen.
Ich kann Safatles Musik nicht ohne seine Reisen, sein rastloses erforschen politischer Umbrüche. Ohne die Kraft und Sensibilität mit der er sich Themen und Menschen annähert und so finden wir auch keine Protestlieder oder Phrasen auf dem Album. Seine Musik ist eher eine Erweiterung seiner Philosophie und so erklärt er: Ich habe ein brutales Misstrauen in das Wort. An manchen Stellen mache ich lieber mit der Musik weiter.
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Ich verstehe die Idee des „Vergangenen“ nicht. Die Musik spricht doch mit dir. Das ist ein Fetisch, das Zeitgenössische auszuarbeiten……. Modern sein sein zu müssen….. Eine reiche Zeit vereinigt viele Zeitenlayer, das jetzt, die Vergangenheit und das was kommt.
Wir füllen den Raum. Eine Form ohne Ziel.
Ich möchte Musik machen, die keine Angst hat sich selbst aufzulösen.
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In O solfejo de Nossas Filhas liest Safatle einen eigenen Text. Beschwörend und hypnotisch seine Stimme. Er spielt dazu das Allegretto der 7. Symphonie von Beethoven.
An das Ende des Stücks montiert er eine Whats AppSprachnachricht seiner Tochter Valentina. „Papa, wie heisst denn das Stück hier“? Sie singt und summt die Melodie der 07. Symphonie.
Photos + Text: Ralph Baiker