Lutz Huelle – Paris, 13.6.2022
Modedesigner, zeigte 2000 seine 1. Kollektion in Paris
Neben seiner Tätigkeit als Modeschöpfer unterrichtet er an der Haute école d’art et de design (Head) in Genf

CYTE: Du hast in London studiert.
LUTZ: Ja.
CYTE: Warum in London?
LUTZ: Ich habe damals in London studiert, weil ich davor zwei Jahre in Hamburg gelebt habe und während dieser zwei Jahre nichts anderes getan habe als auszugehen. Das war dann irgendwann nicht problematisch, aber gefährlich. Denn wenn man sich amüsiert, warum sollte man etwas ändern? Ich hab einfach gedacht „Du musst irgendwie hier weg um Dich darauf zu besinnen, was Du wirklich mit Deinem Leben anfangen willst.“
CYTE: War Modedesign denn schon immer eine Option?
LUTZ: Nicht in dem Sinne. Die Idee war immer, etwas Kreatives zu tun. Ich war nicht wirklich interessiert an Mode, sondern eher an populärer Kultur. Also an allem, das über unser Leben sprach: Film, Musik, Mode und Theater und Ausgehen, Nightlife. Über das Hier und Jetzt, das hat mich immer am meisten interessiert. Und dann war Mode einfach ein Teil davon.
CYTE: So passen dann wahrscheinlich auch Wolfgang Tilmans und Alexandra Bircken mit ins Bild. (Anm. d. Redaktion: zwei Freunde aus Jugendzeiten in Remscheid, wo sie gemeinsam aufwuchsen)
LUTZ: Wir haben dieselben Interessen gehabt. Ich bin nach Hamburg gezogen, weil Wolfgang kurz vorher nach Hamburg gezogen war, um Zivildienst zu machen: Während er dort war, bin ich jedes Wochenende nach Hamburg gefahren von Remscheid aus, um ihn dort zu besuchen. Ich hab Zivildienst in Remscheid gemacht und sobald der fertig war, bin ich nach Hamburg gezogen, weil er da war.
CYTE: Und Alexandra war in der Zeit noch in Remscheid?
LUTZ: Alex war in Remscheid. Ich bin im April 1990 nach London gezogen und da wohnte Alex in Köln. Ich habe damals zu ihr gesagt: „Ich ziehe nach London.“ Alex sagt: „Ich komme auch.“ und Wolfgang hat dann gesagt: „Ich komme auch, aber ich studiere dann in Bournemouth.“, in Bournemouth bieten sie diesen sehr bekannten Photo-Kurs an. Und so haben wir drei uns dann alle in England wieder gefunden. Wolfgang haben wir von London aus regelmäßig in Bournemouth übers Wochenende besucht. Nach seinem Studium ist er nach London gezogen und wir haben zu dritt in London gewohnt.
CYTE: Toll! Wie hast Du London in dieser Zeit empfunden?
LUTZ: Ich wollte immer in London leben. Das war damals das etwas abstrakte Ziel meines Lebens. Das Nachtleben, dieses wahnsinnig aufregende Stadtleben. Ich komme aus einer verhältnismäßig kleinen Stadt in Deutschland und für mich war London immer das Paradies. Ich hatte einen verklärten Blick, wie es sein würde dort zu leben. Nämlich, dass man da ausgeht und sich amüsiert und tausend interessante Leute kennenlernt – das war dann auch zum Teil wirklich so (lacht). Das war das Gute daran!
CYTE: Hat man damals schon das Gefühl gehabt, dass Ihr drei diesen Weg einschlagen würdet – Ihr wart euch ja ähnlich in eurem Willen rauszukommen und gestalterisch etwas zu machen.
LUTZ: Das war schon eher abstrakt. Wir waren einfach extrem gut befreundet, weil wir dieselben Ideen, dieselben Gefühle und dieselben Wünsche hatten. Man findet Freunde, weil sie einem gleichen, oder?! Man findet dann irgendwie zusammen. Es hatte sicherlich auch damit zu tun, dass weder ich noch Wolfgang eine klare Idee von unserer Sexualität und Identität hatten. Und wenn man sich halt nicht sicher ist mit dem was man ist und dann jemand anderen hat, der sich ähnlich fühlt, dann ist das sehr hilfreich. Alex war die perfekte Ergänzung, weil es bei ihr ähnlich war. Wir entsprachen damals wohl alle drei nicht dem normalen Bild von „wie man sein sollte“. Da gab es nur zwei Möglichkeiten: eine war, sich dagegen zu wehren und zu sagen: „Ich will und muss aber wie alle anderen sein, ich kann das nicht zulassen.“, wie das viele Leute getan haben. Oder es gab die Möglichkeit zu sagen: „Ich kann nicht anders sein als ich bin, ich muss da irgendwie mit dealen und das als positive Sache sehen.“ Und das haben wir dann getan. Das ist natürlich einfacher mit Freunden. Es ist immer einfacher Risiken einzugehen und mutig zu sein, wenn man nicht allein ist.
CYTE: Inwieweit beeinflusst Ihr euch immer noch?
LUTZ: Wir sind immer noch die besten Freunde. Es gibt fast niemand anderen, dem ich so sehr vertraue, wie den beiden. Außerdem gibt es niemand anderen, mit dem ich so viel Lachen kann, wie mit Wolfgang und Alex. Das ist das Verrückte, dass wir uns auf einem oberflächlichen Level wahnsinnig gut amüsiert haben zu dritt. Und ich glaube das war auch entscheidend. Es tut so gut, wenn man sich wohl fühlt mit Leuten.
CYTE: Ich frage deshalb, weil ich neben der Qualität Deiner Arbeit, diese Geschichte von diesen drei Menschen, die sich aus der Schulzeit noch kennen, auch wenn es für Dich total normal und vertraut ist, so außergewöhnlich finde: Der eine wird einer der berühmtesten Kunst-Photographen der Welt, der nächste erarbeitet sich – endlich ein Deutscher – einen festen Platz in Paris in der Mode und die dritte ist erfolgreich mit Installationen, mit ihrer Kunst. Das ist ja schon eine besondere Konstellation.
LUTZ: Das haben wir damals nicht kommen sehen. Wolfgang war der, der am meisten an sich glaubte, was das anging. Alex und ich waren da nicht ganz so fokussiert wie Wolfgang. Wolfgang war immer ganz klar mit dem was er wollte.
Aber zu dritt, das wussten wir, waren die Möglichkeiten grenzenlos. Das ist vermutlich nicht jedem so klar und kommt sicher auch darauf an, woher man kommt, wie man aufgewachsen ist. Jemand der in London oder Berlin aufwächst, für den sind die Möglichkeiten schon anders, wenn man von vornherein sieht, was alles möglich ist. Damals war das nicht der Fall, vor allen Dingen galt das nicht für jemanden aus Remscheid. Und ich weiß nicht, wie viel wir gemacht hätten, wenn wir uns nicht kennengelernt hätten. Dass da der Wunsch war irgendwas zu tun, war schon ganz klar, aber ein Teil davon, dass wir heute das tun, was wir tun, war, dass wir uns gegenseitig bestärkt und geholfen haben.

…ich hab das Wort „Karriere“ immer als absurd empfunden

CYTE: Was würdest du sagen, wie viel Remscheid, wie viel Deutschland ist da noch in Dir? Und wenn, welche Teile sind es?
LUTZ: (lacht) …Ich glaube, es ist schwierig …ist das Remscheid, ist das deutsch, ist das einfach meine Art, meine Erziehung, meine Art zu sein? Was ich nie gemacht habe: ich habe mich nie mit anderen verglichen. Ich hab mich nie in einem Zusammenhang gesehen. Und ich glaube, das ist letztendlich einer der Gründe, warum ich eigentlich heute noch da bin. Ich habe nie gedacht: „Oh Gott, ich müsste eigentlich das tun“ oder „Guck Dir die an.“. Ich habe immer nur in meinem eigenen Umfeld gelebt. Ich hab auch immer Scheuklappen gehabt, was letztendlich positiv gewesen ist. Oder zumindest sehe ich das jetzt so. Ich hab mich nie beeinflussen lassen von außen. Ob das jetzt eine deutsche Disziplin ist, ob das was Deutsches ist, ich hab keine Ahnung. Aber Tatsache ist, dass ich mich nie mit anderen verglichen habe und ich merke jetzt, dass das absolut wichtig ist, für ein mentales Gleichgewicht.
CYTE: Trotzdem wirst Du ja einen Plan für Deine Karriere gehabt haben. Gibt es noch Ziele, die Du anstrebst?
LUTZ: Um ehrlich zu sein, ich habe nie einen Plan gehabt, was meine Karriere angeht – ich hab das Wort „Karriere“ immer als absurd empfunden. Ich wollte nur irgendetwas eigenes, interessantes tun…und ich hatte immer eine wahnsinnige Freude an dieser Arbeit, selbst wenn wir Probleme hatten in der Firma, und es war nicht immer einfach in den letzten 22 Jahren. Auf der anderen Seite habe ich das nie als so schlimm empfunden – solange ich in der Lage war zu arbeiten und diese Dinge zu tun, war das alles ok. Das merke ich jetzt, da ich feststelle, wie groß die Möglichkeiten sind. Ich habe immer gedacht, wir bleiben unter dem Radar, wir hatten immer unsere 50-60 Boutiquen weltweit und damit kann man gut leben und es ist auch kein Problem, wenn man dann nicht auf Style.com ist. Das war immer alles ok. Und jetzt, wo das alles passiert, in den letzten 3-4 Jahren, realisiere ich all die Chancen und sehe wie groß das Potenzial bei uns eigentlich sein könnte. Und ich merke da plötzlich, dass der Wille da ist, es auch wirklich zu schaffen. Das ist eine verhältnismässig neue Erfahrung für mich.
CYTE: Ich glaube tatsächlich, wenn Du das so formulierst, dass Du genau richtig bist jetzt. Denn das was Du machst, ist perfekt für die Zeit. Es ist perfekt, weil viele andere Designer zu leer, zu kommerziell, zu kalkuliert, zu marktorientiert sind, während Du bei Dir geblieben bist, ohne diesen – bei allen anderen aufgeblasenen – Nachhaltigkeits-Gedanken, den Du ja wirklich schon lange lebst. Wenn Du durch die Secondhand Läden hier gehst und Jeans zusammensuchst, dann merkt man, dass das authentisch ist und genau das ist, was Leute gut finden und auch wollen. Es gibt so viele Designer, die etwas verkörpern, was keiner mehr ist, bzw. wie keiner mehr sein möchte und die dreieinhalb Leute, die noch so sind, möchte man nicht kennen. Möchte man ernsthaft mit einer Frau befreundet sein, die von oben bis unten in (…) gekleidet ist? Nein! Und in Chanel schon dreimal nicht! Bei Deinen Sachen, angefangen bei den Klamotten, bis hin zur Auswahl der Modelle, hat man das Gefühl es ist real.
LUTZ: Ich habe nie einen Plan gehabt, was das angeht. Ich habe mir einfach nur überlegt: „Was will man morgen anziehen?“. Und wie sehe ich meine Freunde, was ziehen die an, wie sind die, wie haben die Lust, sich anzuziehen. Ich habe aber auch wahrend der ersten 15 Jahre meiner Arbeit immer das Gefühl gehabt, dass ich außerhalb der Mode bin. Vor 5-6 Jahren habe ich erst angefangen mich in einem Zusammenhang mit Mode zu sehen, das Gefühl zu haben: „Jetzt gehe ich mit dem Rest der Mode in Synchronisation.“. Irgendwas ist da passiert, so dass ich mich plötzlich in der Mode wiedergefunden habe. Ich habe aber nie darüber nachgedacht, sondern nur das gemacht, was ich interessant und schön fand und wie ich Leute um mich herum sehe. Ich habe auch erst hinterher gemerkt, dass das was dann passiert ist, habe ich über die letzten Jahre schon getan. Ich war mir dessen nur nicht bewusst. Und das ist genau so schlimm, wie zu spät zu sein. Zu früh zu sein ist genauso blöd, weil beides funktioniert nicht. Wir hatten eben unsere 50 Boutiquen und ich habe zusätzlich nebenher noch als Freelancer für andere Marken gearbeitet, und das hat dann irgendwie immer finanziell funktioniert.
CYTE: Kurze Zwischenfrage – Du finanzierst noch alles selbst?
LUTZ: Ja!

Ich fand’s einfach immer nur richtig.

CYTE: Also es gibt keinen Finanzier oder eine Gruppe im Hintergrund?
LUTZ: Bisher nicht. Aber ehrlich gesagt, das müsste, wenn wir wirklich diesen Schritt tun wollen, passieren. Aber ich war bisher auch nie ready dafür, wohingegen jetzt wäre der Punkt da. Ich bin mir heute so sicher in dem was ich tue – heute kann ich das kontrollieren, heute weiß ich genau was ich tue. Ich habe immer nur getan was mir gut erschien, ohne zu wissen, ob wir das verkaufen, ohne mich zu fragen: ist die Kollektion kommerziell? Ich fand’s einfach immer nur richtig.
CYTE: Das ist genau das Wort, das ich sagen wollte. Man guckt die Sachen an und es stellt sich nicht eine Frage nach kommerziell, originell oder Avantgarde – es ist einfach RICHTIG gerade. In meinen Augen hat sich eine große Lücke in der Mode aufgetan, als 2005 Helmut Lang zugemacht hat, als Margiela von Diesel gekauft wurde und fast jede Marke unter das Dach einer großen Gruppe geschlüpft ist und plötzlich alles von Controllern und Marketing-Leuten gesteuert wurde. Nicht mehr der Designer entschied sondern die Zahlen und auf einmal wurde es kalt.
LUTZ: Die Mode hat sich wahnsinnig geändert. Dass sie heute nicht mehr emotionell ist wie sie früher war, ist sicherlich wahr. Auf der anderen Seite kann man das auch nicht ändern, es ist momentan einfach so, wie es ist. Aber das tolle an der Mode ist, dass sie nie stillsteht. Sobald die Dinge so sind wie sie sind, sind sie schon wieder anders, weil es immer weitergeht. Deshalb fand ich Mode auch immer so wahnsinnig interessant, weil man sie nie greifen kann, man kann nie sagen: „Jetzt ist der Punkt wo das richtig ist!“, denn morgen ist ein neuer Tag und morgen ist alles anders. Ich habe die Leute nie verstanden, die sagen, dass es in der Mode nichts Neues mehr gibt. Es gab ja die berühmten Polemiken, dass es in der Mode schon alles gegeben hat, alles schon einmal da war. Das ist für mich eine absurde Aussage. Das kann nur jemand sagen, der außerhalb steht. Mode erfindet sich jeden Tag neu. Die geht immer weiter. Und morgen ist ein neuer Tag.
CYTE: Woher nimmst Du Deine Inspiration?
LUTZ: Inzwischen ist es so, nach 22 Jahren Arbeit, dass ich so viele Dinge im Kopf hab, so viele Dinge getan hab, dass ich bei jeder neuen Kollektion gucke, was ich davor gemacht habe und was mir da nicht gefallen hat, was besser sein könnte – ich merke auch schon während ich an der Kollektion arbeite, was ich eigentlich hätte anders machen müssen. Und dann gucke ich wie Leute sich anziehen, ich beobachte Leute auf der Strasse, im Supermarkt, im Café. Wie funktioniert Stoff auf dem Körper, wie zieht sich jemand an, was sagt das aus, wenn ein T-Shirt so oder so fällt. Das was da passiert ist oft minimal. Für mich ist aber genau das die Inspiration.
CYTE: Ist da Paris als Stadt wichtig?
LUTZ: Ich würde sagen Großstädte sind wichtig, weil da die Art, sich anzuziehen immer eine andere ist als in kleineren Städten. In Großstädten passiert mehr, die Leute sind offener. Paris ist eine von vielen Städten. Mailand und Rom sind interessant, und Berlin natürlich. Paris hat sich in der Hinsicht extrem verändert. Als ich hierhin gezogen bin, war Paris eigentlich uninteressant für mich, vor allem nach London. Es war extrem bourgeois, es gab eigentlich nur diese eher abstrakte Idee der Parisienne, die letztendlich nur eine enge Jeans, T-Shirt und eine kurze Jacke trug. Aber heute hat sich das sehr verändert. Wenn man heute guckt, wie vor allem die jüngeren Generationen sich anziehen! Das ist schon wirklich toll!
CYTE: Woran liegt das Deiner Meinung nach?
LUTZ: Ich glaube, weil die Leute heute durch Social-Media viel offener sind. Die sehen alles andere, die sehen viel mehr Möglichkeiten, sie reisen viel mehr. Alle Jugendlichen fahren heute nach Berlin, alle lieben Berlin. Das ist für mich verrückt zu sehen, weil in meiner Jugend war Deutschland wirklich das uncoolste Land der Erde. Es ist interessant wie wild die Leute auf Berlin sind und wie unglaublich cool sie das finden. Und dadurch, dass sie so viel reisen und so viele Sachen sehen, ist Paris nicht mehr das Maß aller Dinge und das war eben vor 20 Jahren noch der Fall. Hier sah man nur sich selbst. Das ist heute nicht mehr so, und das macht Paris sehr viel aufregender.
CYTE: Ich mag es gerne schön und gut zu essen und seit Jahren war Frankreich das Mekka für gute Küche. Die Franzosen denken ja sie haben den Sex, die Mode und das gute Essen erfunden. Und auf einmal kommen dann so Typen aus Skandinavien und machen ganz neue Sachen, über die die ganze Welt spricht. Die Franzosen standen eine Zeit lang etwas ratlos da. Das hat sich auch auf andere Bereiche ausgewirkt, so dass sie alles überdenken mussten.

Es basiert auf Menschlichkeit an erster Stelle und alles andere kommt nachher

LUTZ: Sie haben sich unbesiegbar gefühlt. Dann arbeitet man nicht mehr an sich. Plötzlich fällt ihnen aber auf, dass weder die Mode noch das Essen noch der Sex so interessant sind, wie man gedacht hat (lacht). Wenn man denkt man hat alles, dann ist es vorbei – zumindest für eine Zeit.
CYTE: Das heißt also, Du bist auf Wachstum eingestellt?!
LUTZ: Ja, schon! Nach all den Jahren merken wir gerade, dass wir zum Beispiel in Deutschland auch außerhalb von Berlin wachsen können. Wir haben Boutiquen in kleineren Städten und dort funktioniert unsere Mode jetzt. Und seit einiger Zeit ist da ein Interesse, das über unsere treue Kundschaft hinausgeht. Das gibt es ja eigentlich gar nicht, dass ein junger (lacht) Designer nach 22 Jahren noch jung ist.

Ich hab mehr durch Magazine gelernt als durch Schulbücher!

CYTE: Aber vielleicht ist es genau wie Du gesagt hast: Du warst zu früh, zu früh, zu früh und auf einmal ist es RICHTIG!
LUTZ: Ich hoffe es – ich klopf auf Holz! Man muss natürlich sehen, was daraus wird, aber Tatsache ist, dass wir jetzt dafür bereit sind und das war vielleicht früher nicht der Fall. Ich bin auch nicht unbedingt der beste Geschäftsmann, das kommt noch dazu. Ich war immer zu emotionell. Es gab bei uns nie eine Idee von Marketing, es war alles nur meine persönliche Arbeit. Es basiert an erster Stelle auf Menschlichkeit und alles andere kommt nachher.
CYTE: Die Leute haben es vielleicht auch satt, von diesem ganzen Marketing abgezockt zu werden. Alles ist gekauft, jede Kritik, jeder Influencer ist bezahlt. Alle haben ihre kuratierende Funktion aufgegeben zugunsten des Kommerzes und die Menschen sehnen sich nach Personen, Institutionen, Magazinen und Marken, denen sie wieder vertrauen können, wo Personen mit Herz hinter stehen.
LUTZ: Vor 20 bis 30 Jahren waren Magazine noch eine absolute Lifeline, es gab ja nichts anderes. Alles was man über die Welt sehen konnte, was nicht vor einem war, sah man in Magazinen. Ich hab mehr durch Magazine gelernt als durch Schulbücher!
Heute ist das nicht mehr so. Das System der Mode, der Kritik hat sich total geändert und die Leute sind darin zum Teil gefangen. Völlig unabhängig ist kaum noch jemand. Und alle sind ständig am Rande der Möglichkeiten und ich weiß nicht wie das funktionieren soll.
CYTE: Klar, das ist ein Tanz auf des Messers Schneide, aber ich glaube, je mehr das Pendel in die kommerzielle Richtung schlägt, desto mehr braucht es diesen Gegenpol von unabhängigen Leuten, die versuchen ihre Integrität zu bewahren. Deshalb braucht auch die Mode so Menschen wie Dich…
LUTZ: …und so Magazine wie Deins …
CYTE: …denn das, was man auf Social Media sieht, kann nicht alles sein. Nach noch nicht mal 10 Jahren, hat es zwar seine Berechtigung, aber es kann nicht alles sein.

…wenn Du in Paris freundlich bist, denken die Leute Du bist doof.

LUTZ: Man darf aber auch nicht vergessen, ein Grund, weshalb wir auf einmal sichtbar geworden sind, war Instagram. Wir waren sehr selten in der Mainstream-Presse. Wenn sich vor 10 Jahren eine Redaktrice nicht für Dich interessierte, dann war der Weg nach außen völlig zu. Weil in dem Augenblick, wo Du nicht in Vogue warst, warst Du nicht existent. Das ist heute anders. Und es ist etwas Positives, dass heute die Mode nicht mehr von 100 wichtigen Menschen kontrolliert wird. Wir sind bekannt geworden und aus unserem Geheimtip-Status herausgekommen, weil uns die Leute plötzlich auf Instagram wahrgenommen haben. Die haben uns nicht in der Vogue gesehen, aber auf Instagram. Und als wir dann auf Instagram waren, hat uns Vogue gesehen. Und dann waren wir plötzlich auch auf Style.com
CYTE: Ich stimme Dir zu, dass Social-Media die Dinge demokratisiert hat und generell auch liberalisiert hat und es war auch gut, dass die ganzen alten Krähen so auf die Finger bekommen haben. Aber was dann im gleichen Maße passiert ist, und damit tue ich mich nach wie vor schwer, und ich glaube auch nicht, dass das wirklich zielführend und sinnvoll war, dass die ganzen Influencer das Zepter übernommen haben. Und auf einmal, weil sie nun so viele Follower hatten denen sagen konnten was Gut und Richtig ist. Ich glaube auch, dass in Deinem Fall, im Vergleich zu sehr vielen anderen Social-Media Accounts, Du eine große Qualität hast, nämlich Humor. Du nimmst Dich nicht zu Ernst und es macht Spaß – ich weiß nicht ob Dir jemand damit hilft …?
LUTZ: Nein, ich mache alles selbst.
CYTE: …aber es wirkt so, als wenn Dir plötzlich ein Flitz in den Kopf kommt und der wird dann gepostet. Das macht es so charmant und es ist halt eben nicht dieses taktische Beballere der sonstigen Accounts. Ich mochte sehr diesen Film, in dem Du das T-Shirt zuschneidest, um daraus ein Sommer-Top zu machen. Das ist doch super!
LUTZ: Es ist nett, dass Du das sagst. Ich kann das nicht beurteilen, man ist eben wie man ist! Ich mache einfach und wenn es gefällt ist es schön und wenn es nicht gefällt, ist es kein Problem. Mir ist am Anfang in Paris mal gesagt worden dass man nicht freundlich sein darf, weil man sonst nicht respektiert wird, und die Leute denken, man sei doof…aber dann sollen sie halt denken ich bin doof. Wenn die Leute denken, dass man doof ist, hat man natürlich auch Freiheiten, weil dann niemand mehr etwas erwartet. Ich bin lieber doof, als dass ich mich bemühe unfreundlich zu sein, das liegt nicht in meiner Natur. Ich kann nicht so sein und ich will es auch nicht. Dann wird man eine andere Person, dann wird man bitter und negativ und unangenehm und das alles will ich nicht sein. Wenn das dann nicht passt, ist das auch kein Problem. Letztendlich ist es, glaube ich, wichtig, dass man mit sich im Reinen ist. Und dass man einigermaßen glücklich ist, auch wenn „glücklich“ eigentlich ein abstraktes Wort ist. Dass man tut, was man gerne tut. Dass man sich mit Leuten umgibt, die man gerne mag. Dass man mit Freude zur Arbeit geht. Und alles andere ist nicht wichtig!

Jetzt fünf Fragen zum Abschluss, inspiriert aus der New York Times:

CYTE: Was trägst Du normalerweise bei der Arbeit?
LUTZ: Ich ziehe bei der Arbeit an, was ich immer anhabe. Da gibt es keine Unterschiede, ob ich zur Arbeit gehe oder sonst wohin. Ich ziehe mich immer gleich an.
CYTE: Kein Kittel wie bei Margiela?
LUTZ: Nee, das war das schlimmste! Ich fand das furchtbar, das war so ein Gleichmachen von allen. Das hörte sich erst charmant an, etwas altmodisch und nach Couture, aber letztendlich war es nur, um alle gleich zu machen. Von daher fand ich das nicht so angenehm.
CYTE: Wie häufig sprichst Du mit anderen Designern?
LUTZ: Oft! Zumindest all die, die man halt kennt. Dadurch, dass ich hier schon so lange bin, kenn ich natürlich alle und von daher ist man auch mehr oder weniger befreundet. Man trifft sich regelmäßig. Unweigerlich.
CYTE: Also eher auf einer freundschaftlichen Ebene, als auf einer Konkurrenz-Ebene.
LUTZ: Also man spricht nicht unbedingt über Arbeit. Aber es gibt Leute, die sofort fragen: „Wie viel hast Du letzte Saison verkauft?“ Aber das beantworte ich nie …
CYTE: Wirklich?
LUTZ: Die gibt’s! Einen ganz Speziellen, der das immer tut, aber da reagiere ich dann nicht drauf, das ignoriere ich und dann ist es auch gut! Aber der größte Teil der Designer ist nett. Vor allen Dingen die jetzige Generation, die sind alle viel cooler.
CYTE: Wann war es zum ersten Mal selbstverständlich für Dich, Dich Designer zu nennen?
LUTZ: (lacht) Eigentlich nach der ersten Kollektion. Bei Margiela war ich Assistent und da war man nicht Designer. Heute haben die ja schon alle Titel. Damals war das nicht der Fall. Mein Posten war „assistant designer“. Nach meiner ersten Show fühlte ich mich dann als Designer.

Diesen Fehler, zu früh oder zu spät zu sein, möchte ich nicht mehr machen!

CYTE: Wie startest Du eine neue Kollektion?
LUTZ: Der erste Schritt ist immer zurück zu gucken, was ich die Saison davor gemacht habe. Die habe ich auch immer an der Wand hängen die letzten vier oder fünf, um zu sehen, ob das irgendwie logisch ist, ob das funktioniert, ob das die Kunden, die das Vorherige gekauft haben, das mit den neuen Ideen wieder anziehen können. Wie kann das weitergehen. Es ist eigentlich wie eine Garderobe, also ich schaue immer erst auf meine letzte Kollektion. Dann überlege ich, wie man das irgendwie besser machen könnte, wo habe ich Lust zu, welches Volumen, welche Art sich anzuziehen. Es ist eigentlich wie ein Puzzle.
CYTE: Heißt das im Umkehrschluss auch, dass Du Dir bestimmte Dinge verbietest, weil Du eher evolutionierst als revolutionierst? Wenn Du vielleicht etwas im Kopf hast, das Dir ganz toll vorkommt, es aber rausfallen würde?
LUTZ: Absolut, das mache ich eigentlich immer! Ich mach halt immer Zeichnungen, endlos, die ich auch immer aufbewahre und ich gehe da oft wieder durch und
gucke, was davon vielleicht noch gut ist. Und ich hab manchmal Sachen, die ich seit Jahren mit mir rumschleppe und noch nie realisiert habe. Die ich zwar immer noch schön finde, aber nie der richtige Augenblick da war, um sie zu machen. Oder manchmal war es zeitlich nicht mehr möglich sie zu realisieren, weil alles zu spät war und dann hat man es nicht mehr gemacht und in der nächsten Saison war es dann nicht mehr richtig. Das kann auch passieren. Diesen Fehler, zu früh oder zu spät zu sein, möchte ich nicht mehr machen! Und da ich das jetzt weiß, passe ich natürlich auf!
CYTE: Was ist Deine Lieblingskollektion von einem anderen Designer?
LUTZ: Eine Kollektion oder generell als Stil?
CYTE: Beides!

Warum nicht?!

LUTZ: Als Stil würde ich Pierre Cardin sagen, weil der eine unglaubliche visuelle Klarheit hatte und wahnsinnig modern war und eigentlich immer modern geblieben ist. Aber eben zu dem Zeitpunkt, wo er es gemacht hat, so unglaublich modern und effektiv, aber trotzdem völlig unkompliziert. Und in dieser Simplizität Stärke zu finden, ist für mich wahnsinnig toll! Man kann viele komplizierte Dinge tun, die wild und gewollt wirken, aber in einer ganz klaren visuellen Einfachheit Stärke zu finden, ist nicht einfach! Der war sehr extrem und ich finde seine Sachen immer noch toll!
Dann gibt es halt einzelne Kollektionen, die mich immer begleiten. Es gibt z. B. eine Comme des Garçons Kollektion mit Kissen, bei der sie in Stretchstoffe Kissen reingenäht haben, die die Körperformen verändert haben.
CYTE: Ich hab jetzt ein Bild von Mark Borthwick vor Augen mit Kissen …
LUTZ: Das war Margiela. An dieser Kollektion habe ich mitgearbeitet, die hieß „Flat garnments“, das war auch toll! Aber die CdG Kollektion war ganz bunt, alles Stretchstoffe, die dann einfach den Körper verfremdet haben. Und das wirkt so natürlich in der Kollektion, dass man sich fragt, warum nicht! Das ist eigentlich die gleiche Logik, wie bei Pierre Cardin: Es ist einfach extreme Dinge zu tun, aber es ist wahnsinnig schwierig extreme Dinge zu tun, die Sinn machen und so wirken, dass man sich fragt: „Warum nicht?!“. Das ist für mich genau das gleiche, wie in den Filmen von Almodóvar, in denen es kompliziert und eigenartig ist. Aber schon während man sich den Film ansieht, denkt man: „Warum nicht?!“. Man hat das Gefühl, es ist genau die Realität, selbst wenn es nicht der Realität entspricht. Und das finde ich wahnsinnig toll, wenn man das schafft! Weil das etwas ist, was wirklich das Leben verändert, wenn Du etwas Abstruses als reell darstellen kannst, dann ist es plötzlich möglich! Dieses „Warum nicht?!“ kann Mode verändern, wenn es akzeptiert wird, wenn Leute entscheiden: „So will ich wirklich aussehen.“. Das ist es, was einen guten Mode-Designer ausmacht, dass er den Leuten Sachen gibt, die sie wirklich anziehen wollen und nicht nur angucken und lachen wollen.
Es gab auch diese ganz tolle Balenciaga Kollektion von Nicola Ghesquière mit den Armee-Hosen und bunten Tops, die Mitte der „naughties“ (Anm. d. Redaktion: 90er Jahre) rauskam, die ist mir auch im Gedächtnis geblieben. Die war wahnsinnig toll. Mit Cargohosen, komischen Formen – wie kriegt man das hin, dass das so selbstverständlich wirkt? Es war nicht, so weit ich weiß, seine erfolgreichste Kollektion, den Parisern war sie zu „streety“ damals. Aber im Nachhinein war die toll und die könnte man genauso gut heute wieder machen, heute wäre sie wahrscheinlich erfolgreicher, weil man sich heute so anziehen würde.

An dieser Stelle mussten wir das Gespräch beenden, obwohl es noch endlos hätte weitergehen können an diesem sonnigen Vormittag in Paris. Selten habe ich ein so intensives und persönliches Gespräch mit jemanden geführt, den ich zum ersten Mal getroffen habe. Ich bin gespannt wie es mit Lutz weitergeht und werde seinen Weg mit Spannung verfolgen.

Photography+Interview: Stephan Ziehen

Model: Merle Mila@A-Management

Make-Up: Angelik Iffenecker

Hair: Antoine WauqierLCapsule Agency

Lyrics: Jens Bülskämper

all looks styled by Lutz Huelle