Jedes Projekt, egal wie groß oder klein, lang oder kurz, hinterlässt Spuren.

Artist: Franz Liebig

Text: Claudia Ippen

An einem sonnigen Junimorgen sitzen Franz und ich uns gegenüber. Leider nicht live, er ist in Paris und ich in Hamburg, dafür digital und bei einem zweiten Kaffee. Wir kommen sofort ins Erzählen – darüber, wie er über Umwege zur Schauspielerei gekommen ist, was ihn daran am meisten reizt und welche Themen ihm besonders am Herzen liegen. Inhalte sind ihm wichtig, das merkt man. Und komplexe Figuren, die man nicht sofort durchdringt. Franz macht, was sich für ihn richtig anfühlt, lässt sich immer wieder durch Begegnungen mit anderen Menschen und Künstlern inspirieren und, wie er sagt, an andere Orte bringen. Ich freu mich schon drauf, wo wir ihn als nächstes sehen, vielleicht wird’s ja auch ein eigenes Projekt über den Osten oder seine Großmütter. Ich bin gespannt!

Cyte: Du hattest mir ja schon geschrieben, dass du gerade nicht in Berlin bist. Sondern in Paris am

Theater. Vielleicht steigen wir da auch direkt ein, wo sitzt du gerade und warum?

Franz: Ich bin immer mal wieder in Paris. Ich habe hier studiert, und meine Agenturen befinden sich in Paris und Berlin. Dreiviertel des Jahres bin ich in Berlin und die restliche Zeit in Paris für Castings oder Drehs. Oder wie jetzt am Théâtre de la Tempête für eine dreiwöchige Master Class, eine Art Weiterbildung für Schauspieler mit Berufserfahrung. Das Théâtre de la Tempête ist toll. Es war das erste Theater in Paris, in dem ich ein Stück gesehen habe. Und jetzt habe ich die großartige Möglichkeit, mit dem Intendanten, Clément Poirée, zusammen zu arbeiten.

„Wir lernen, einen eigenen Text unter das Stück zu legen, nur dass es eben Bilder sind.“

Cyte: Woran arbeitet ihr gerade?

Franz: Im Prinzip ist es eine Art Labor, in dem wir an verschiedenen Schauspieltechniken arbeiten. Wir setzen uns gerade viel mit Visualisierung auseinander. Das heißt, wir visualisieren gemeinsam starke Bilder, um diese dann im Spiel umzusetzen. Zuschauer merken sehr schnell, wenn eine Schauspielerin oder ein Schauspieler kein konkretes Bild vor Augen hat. Das wird dann oft langweilig. Mit einem klaren Bild, von dem was man erzählen möchte, wird der Stoff sofort lebhaft für das Publikum.

Cyte: Das musst du mir genauer erklären. Geht es darum, Emotionalität und Glaubhaftigkeit

rüberzubringen? Das stell ich mir nämlich sehr schwierig vor, insbesondere wenn man eine Szene zum ersten Mal oder auch zum wiederholten Male spielt.

Franz: In der Schauspielausbildung lernt man Techniken, um Emotionalität abrufen zu können, ohne

immer selbst wie beim Method Acting die gesamte Intensität der Gefühle zu spüren. Die

Visualisierungen wiederum helfen dabei, die Erzählungen lebhaft zu halten. Auch durch neue Bilder,

die man sich immer wieder sucht. Es geht um fantasievolle Bilder, die den Text anregen. Es ist eine Art Strategie, ähnlich wie zum Beispiel das Arbeiten mit Subtexten. Wir lernen, einen eigenen Text unter das Stück zu legen, nur dass es eben Bilder sind. Ob ich jetzt zu sehr abdrifte?! (lacht)

„Es waren immer auch Begegnungen mit Menschen, die mich zur Schauspielerei und an andere Orte gebracht haben.“

Cyte: Stichwort Schauspielausbildung. Du hast Deine in Paris absolviert. Wie kam es

dazu?

Franz: Ich habe erst BWL studiert, teils in Deutschland teils in China, in London meinen MBA gemacht und fünf Jahre im Bereich Finance gearbeitet. Ich habe irgendwann gemerkt, dass Finance zwar ein

spannendes Feld ist, mich aber nicht wirklich bewegt. Ich konnte mir nicht vorstellen, meinen

Lebensabend damit zu verbringen. Als Teil des MBAs konnte ich einen Schauspielkurs belegen,

geleitet von John Lightbody, einem Schauspieler der u.a. am National Theatre gespielt hat. Da habe ich dann gemerkt, dass ich einen Zugang zur Schauspielerei habe. Und dass Schauspiel tatsächlich ein eigener Beruf ist, den man lernen kann. Das war mir vorher gar nicht so klar! Aus meinem Abiturjahrgang haben alle recht klassische Berufe gewählt, im Schauspielkurs in London kam ich das erste Mal in Kontakt mit anderen Schauspielern, mit Theater und Film. Und jetzt muss ich ein bisschen ausholen … Während meines Studiums in China, habe ich eine ganze Reihe von Französinnen und Franzosen kennen gelernt, durch die ich die Sprache gelernt habe und die mir dann später vom Cours Florent in Paris erzählt haben. Es waren irgendwie immer auch Begegnungen mit Menschen, die mich zur Schauspielerei und an andere Orte gebracht haben.

„Am meisten reizen mich komplexe Figuren, die am Rand der Gesellschaft

stehen, Brüche haben und nicht sofort lesbar sind.“

Cyte: Finance und Wirtschaft gilt ja als recht sichere Berufswahl. War für dich der Wechsel zur

Schauspielerei schwierig? Hast du das Ganze am Anfang noch parallel laufen lassen oder bist du

sofort auf volles Risiko gegangen?

Franz: Ich habe weiter in Finance gearbeitet, um mir das Schauspielstudium zu finanzieren. Nach dem

Abschluss war mir klar, dass die Schauspielerei das ist, was ich machen möchte. Und dass es keinen

Weg mehr zurückgibt. Und so ein großes Sicherheitsbedürfnis habe ich eh nicht. Ich weiß gar nicht

wie ich das beschreiben soll. Aber BWL war vielleicht eher so ein Versuch, in der Mitte der Gesellschaft anzukommen. Da studiert man halt BWL und ist erfolgreich, was auch immer das bedeuten soll. Ich komme aus Magdeburg, aus einer Familie mit klassischer Ostbiographie, d.h. mein Vater hat KFZ-Meister und meine Mutter OP-Schwester gelernt. Ich war der erste aus meiner Familie, der Abitur gemacht und studiert hat. Ich hatte einfach keinerlei Bezug zu Kunst, das war ganz weit weg. Eigentlich schade, dass einem künstlerische Berufe wie zum Beispiel Schriftsteller, Maler, Schauspieler in der Schule nicht näher gebracht werden.

Cyte: Du bist gerade am Theater für eine Master Class, hast in Theaterstücken, Fernsehserien und

Filmen mitgespielt. Was reizt dich davon am meisten?

Franz: Sowohl Theater als auch Film haben beide ihre Berechtigung und ganz eigene Reize. Das

Spannende beim Theater ist der direkte Kontakt mit dem Publikum, auf das man sich jedes Mal

wieder aufs Neue einlassen muss. Das Besondere beim Film ist diese kurze extreme Anspannung vor

der Kamera. Dieses Abrufen, und dann ist’s auch schon vorbei. Tatsächlich interessieren mich aber die Inhalte am meisten. Es geht mir gar nicht so sehr um das Format. Für mich ist es wichtig, dass

sowohl der Stoff als auch die Figuren interessant sind. Und dass ich mich mit beiden

auseinandersetzen kann. Am meisten reizen mich komplexe Figuren, die am Rand der Gesellschaft

stehen, Brüche haben und nicht sofort lesbar sind.

„Viele Menschen meiner Generation beschreiben eine Art Phantomschmerz, einen Verlust von einem Land, dass wir selbst gar nicht erlebt haben.“

Cyte: Ich finde das merkt man auch an der Auswahl deiner Rollen und Projekte. Sowohl Alice als auch

The New Look oder auch die zdf-Serie Himmel & Erde behandeln gesellschaftlich relevante

Persönlichkeiten und Themen.* Insbesondere Himmel & Erde hat mich nachdrücklich beeindruckt. In

einer Folge sagt eine geflüchtete Ukrainerin zu ihrer Schwester: „We can go wherever we want for

free, but not back home“. Da musste ich noch lange drüber nachdenken. Welche Bedeutung hat die

Serie, aber vielleicht auch das Zitat für dich persönlich?

Franz: Das war ein tolles Projekt. Vor allem auch weil ukrainische Filmschaffende die Möglichkeit

hatten, ihre Geschichte und Perspektive in Deutschland zu erzählen. Viele Beteiligte kamen aus der

Ukraine. Für mich persönlich war es spannend, sie alle kennenzulernen und mit ihnen arbeiten zu

können. Und ihre Geschichten zu hören! Die beiden Frauen zum Beispiel, mit denen ich gedreht habe, die ja auch wirklich noch sehr jung sind, mussten von zuhause weg und plötzlich im Ausland, in Kroatien, leben. Durch die Serie und den Austausch mit den anderen bin ich in Berührung mit der ukrainischen Community gekommen, das war spannend. Ohne hier irgendwas gleichstellen zu wollen, es ist ein komplett anderer Zusammenhang, keine Frage. Aber ich beschäftige mich gerade sehr viel mit Ostdeutschland. Ich komme ja von dort. Und dazu passt das Zitat wie ich finde auch sehr gut. Denn viele Menschen meiner Generation beschreiben eine Art Phantomschmerz, einen Verlust von einem Land, dass wir selbst gar nicht erlebt haben. Und ich meine das gar nicht im nostalgischen Sinne oder im Sinne von „Ich möchte dieses Land zurück“. Aber ich muss eben trotzdem feststellen, dass ich einfach anders sozialisiert wurde und andere Erfahrungsräume habe als Gleichaltrige aus dem Westen. Es ist auf jeden Fall ein Thema, das mich und viele Menschen aus dem Osten, mit denen ich mich austausche, gerade umtreibt.

Cyte: Das kann ich gut verstehen. Zumal es dabei ja auch um Heimat, Identität und Wurzeln geht.

Überall hingehen zu können, nur nicht da wo man herkommt, stell ich mir sehr schwierig vor.

Franz: Ich habe in den Nuller-Jahren Abitur gemacht und da gab es das Verständnis, dass man überall

hingehen kann. Das löst sich gerade wieder auf. Man merkt, dass sich viele Sachen verändern, von

denen man dachte, dass sie vollkommen normal und selbstverständlich sind.

„Ich glaube, dass Filmförderungen und Fernsehsender noch mehr Mut haben könnten (…)“

Cyte: Welche Rolle meinst du spielen Filme und Serien bei der Sensibilisierung von uns Zuschauenden

oder auch der Gesellschaft für solch wichtige sozialen Themen? Und welche Verantwortung siehst du

als Schauspieler dabei?

Franz: Zum einen habe ich als Schauspieler eine Verantwortung der realen Person gegenüber, die ich spiele. Bei Alice spiele ich Jean-Marc Reiser, der das Comicmagazin Hara-Kiri mitgründete und seine Zeichnungen später im Magazin Charlie Hebdo veröffentlichte. Da wollte ich ihm natürlich als Person gerecht werden. Zum anderen finde ich es ganz grundsätzlich wichtig, dass durch Filme oder Serien unterschiedliche Perspektiven aufgezeigt werden und Erzählungen Öffentlichkeit finden, die sonst nur einen begrenzten Raum im gesellschaftlichen Diskurs haben. Ich glaube, dass Filmförderungen und Fernsehsender noch mehr Mut haben könnten, solche Geschichten zu erzählen.

Cyte: Wie beeinflusst dich persönlich die Arbeit an derartigen Projekten? Hat es Auswirkungen auf

dein eigenes Denken und Handeln?

Franz: Jedes Projekt, egal wie groß oder klein, lang oder kurz, hinterlässt Spuren, und zwar sowohl

die Arbeit an dem Stoff als auch die Figuren selbst. Bei Jean-Marc Reiser bleibt zum Beispiel sein

Blick auf die Welt. Aber auch sein Lachen.

Cyte: Und geben dir gewisse Projekte auch wieder Ideen für neue Projekte? Oder ist dir vorher schon

genau klar, was als nächstes kommt?

Franz: Nee gar nicht. Im Gegensatz zu meinem vorherigen Job, hat man seinen Weg nicht so klar

abgesteckt. Das kann man auch glaube ich nur bis zu einem gewissen Grad selbst beeinflussen.

Wichtig ist der Austausch mit anderen Menschen. Ich bin schon sehr oft durch einen Film oder eine

Begegnung auf ein neues Thema oder eine Idee gekommen.

„Wie sehe ich die Biografien meiner Großeltern, die Entwertung vieler Biografien nach dem Mauerfall, die Lebens- und Anpassungsleistung meiner Eltern (…?)“

Cyte: Gibt es denn bestimmte Themen, die dir besonders am Herzen liegen und die du gerne in

Zukunft behandeln möchtest?

Franz: Es gibt mehrere Themen, die mich gerade umtreiben. Eins haben wir gerade angerissen, der

Osten. Mich interessiert, wie meine Generation aufgewachsen ist, wie wir selbstbewusst einen eigenen Umgang mit unseren ostdeutschen Biografien finden und welche Geschichten wir erzählen wollen. Meine Familie zum Beispiel. Wie sehe ich die Biografien meiner Großeltern, die Entwertung vieler Biografien nach dem Mauerfall, die Lebens- und Anpassungsleistung meiner Eltern, die aus Magdeburg in den Harz gezogen sind, wo meine Mutter beispielsweise die einzige Mutter in meiner Schulklasse war, die gearbeitet hat? Diese Perspektiven werden noch zu selten erzählt, aber sie werden langsam sichtbarer und es gibt einige wenige Regisseure wie Andreas Dresen, der sich schon lange mit solchen Biografien beschäftigt. Aber auch sein Film Gundermann hat über 10 Jahre gebraucht, um erzählt werden zu können.**

Dann beschäftigt mich derzeit das Leben und die Biografien meiner Großmütter. Das sind sehr

starke Frauen. Die beiden leben glücklicherweise noch. Ich fühle mich ihnen sehr verbunden und

verbringe gerne Zeit mit ihnen. Ihr Leben, ihre Lebensleistung und ihr Lebensmut beeindrucken mich sehr. Eine meiner Großmütter lebte eine Zeit lang in Solingen, kurz bevor die Mauer gebaut wurde, die andere ist sehr jung Mutter geworden, beide haben seit den 50ern in verschiedensten Berufen gearbeitet und waren immer auch für ihre Familien verantwortlich. Ich würde mich freuen, wenn ich es schaffe, ihre Erfahrungen und Perspektiven auf unsere Zeit auf irgendeine Weise sichtbar zu machen! Dieser Austausch zwischen den Generationen ist, glaube ich, sehr wichtig. Oft heißt es ja, dass ältere Menschen jüngeren keinen Platz machen. Aber ich finde eigentlich, dass es eine gegenteilige Bewegung gibt, hin zu einer zunehmenden Verjüngungstendenz. Alles und jeder muss irgendwie jünger werden. Ich finde genau diesen Austausch mit älteren Menschen sehr wertvoll, auch um sich selbst zu erden und für sich zu prüfen, was eigentlich wichtig ist und was nicht.

Ich werde versuchen genau diese gesellschaftlichen Themen weiter in meine Arbeit einfließen zu lassen und vielleicht mache ich irgendwann selbst einen Film darüber oder schreibe ein Buch.

Vielen Dank, Franz, für das tolle Interview. Es hat sehr viel Spaß gemacht!

*Der Film Alice aus dem Jahr 2022 porträtiert Alice Schwarzer, die feministische Ikone der deutschen

Frauenbewegung. Die Apple TV+ Serie The New Look spielt während des Zweiten Weltkrieges und

zeigt die Geschichte des Modehauses Dior. In der ZDF-Serie Himmel & Erde – Небо та Земля,

nominiert für den Grimme-Preis, erzählen ukrainische Filmschaffende Geschichten von Ukrainern und Ukrainerinnen (https://www.zdf.de/serien/himmel-und-erde).

**Gundermann ist eine Biografie und Musikfilm über den Liedermacher Gerhard Gundermann. Der

Film kam 2018 in die deutschen Kinos. Die Arbeiten an dem Film begannen aber bereits 2006.

Franz Liebig

Actor: Franz Liebig
Words: Claudia Ippen

Photograph: Stephan Ziehen
Styling+ Outfits: von Uwe
Grooming: Mily Serebrenik@Bigoudi
Productions-Assistance: Nina Virus