„Social Media: Eine toxische Beziehung“

Revolutions-Preenactments mit Büffelmensch, Foodie-Instragram, geschmacklose Sophie-Scholl-Vergleiche, Achtsamkeitsinszenierungen, Echsen-Eliten, Corona-Waldbaden und Impfverschwörungsmythen, absurde Theorien über die Beschaffenheit der Welt. All dies sind sehr reale Phänomene der Gegenwart bei denen man sich ein wenig die Augen reibt und die Frage angebracht ist: Wie konnte es eigentlich soweit kommen? Gemeinsames Merkmal scheint nur ein selektiver Umgang mit Daten, Themen und Positionen, eine postfaktische Grundhaltung und ihr Ursprung aus einem sprachlich und inhaltlich enthemmtem, kommunikativen Grundrauschen in Social Media Formaten.

Diese Anzeichen weisen auf eines ziemlich deutlich hin, nämlich, dass soziale Medien nur auf den ersten Blick bloß digitale Kommunikationswerkzeuge sind, die uns alle näher zusammenbringen. Vielleicht ist auch die Metapher vom „Werkzeug“ im Hinblick auf Social Media völlig fehl am Platze und es wäre sinnvoller davon auszugehen, dass Social Media eher toxischen Beziehungspartner*innen gleicht. Sprich: Asozialen Entitäten mit denen wir uns anscheinend kollektiv in einem unguten Abhängigkeitsverhältnis befinden und zwar mit entsprechenden Folgen für Psyche, Kultur und Gesellschaft.

Dabei fing doch alles ganz harmlos an. Und zwar wie in toxischen Beziehungen üblich, mit einer Love-Bombing-Phase. Social-Media hatte uns fasziniert mit all den Angeboten und Möglichkeiten, die uns eröffnet wurden und die so wunderbar anschlussfähig waren an unsere individuellen Bedürfnisse. Hier ein bisschen Aufmerksamkeit, ein bisschen Lob, Gemeinschaft, Verständnis und Bewunderung, viel Bewunderung. Und wie in jeder toxischen Beziehung waren die Warnsignale von Anfang an sichtbar, ließen sich aber recht gut ignorieren, indem einfach angenommen wurde, dass die Probleme auf Seiten der Nutzer*innen und nicht in der Strukturlogik und der Konstruktionsweise dieser Medien zu suchen sind. So zeigt sich zum Beispiel recht früh, dass Facebookaktivität einen negativen Einfluss auf das Selbstwertgefühl von Jugendlichen[1] ausübt. Anscheinend sind es aber nicht nur Jugendliche, die in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und in ihren Psychen weit weniger gefestigt sind als angenommen. Vielmehr machen sich Verfallserscheinungen und mentale Auffälligkeiten bemerkbar, die sich durch alle Alterskohorten und gesellschaftlichen Schichten ziehen.

 

Leider ist die Idee, Medien wären reine Werkzeuge insbesondere bei Kommunikationsmedien mit Blick auf Gesellschaft, Kultur und Psychen naiv.

Dabei sind es nicht nur die üblichen Verdächtigen, wie die übertriebenen Bilder des gelungenen Lebens, der perfekten Körper oder des beruflichen Erfolges, sondern auch ein kollektiv mit Lust betriebenes Gaslighting in Foren und Messengergruppen, das verstärkt durch ihre Resonanz in Politik und den klassischen Medien, die Büffel-Mensch-Hybride und Pseudomilizen ins Kapitol treibt. Zusammen mit multiplen Formen von Hetze, die sich spontan gegen alles und jeden richten kann, mit frisierten Studien und Falschinformationen, die Verrohung von Sprache und künstlichen Intelligenzen, die in ungeklärtem Auftrag zusätzlich mitmischen und in der ganzen Kakophonie den jeweiligen Nutzer*innen das Passende raussuchen, zeigen die sozialen Medien ihr zweites, ziemlich asoziales Gesicht. Und bei Gesicht zeigen bleibt es nicht und auch nicht bei einfachen Kommunikationsangeboten. Die dunkle Seite von Social Media reicht mittlerweile gehörig in den Alltag hinein und ist nicht auf die digitalen Echokammern beschränkt. Wie bei Liebhaber*innen, die uns mal diese, mal jene Seite zeigen, Auf- und Abwertung gleichzeitig betreiben, anziehen und wegstoßen, Emotionen und Wahrnehmung manipulieren, macht sich Verunsicherung und Sinnverlust bemerkbar.

Bei toxischen Beziehung sollte aber stets danach gefragt werden: wie konnte es soweit kommen? Und im Falle von Social Media ist hier nicht allein mit dem Hinweis auf individuelle psychologische oder bildungsbezogene Mängel der Nutzer*innen, gesellschaftliche Fehlentwicklung und kulturelle Übertreibungen der Spätmoderne getan. Vielmehr scheint eine grundlegende Fehleinschätzung ursächlich. Social Media Formate wurden und werden überwiegend als Werkzeuge verstanden. Werkzeuge, die unserer Kommunikation und sozialen Aktivitäten dienen. Dienliches Zeug, mit dessen Hilfe sich Möglichkeiten realisieren lassen, das unterhält, dessen man sich nur zu bedienen braucht und bei dem es vielleicht zu einem Falschgebrauch kommen kann, dies aber dann das Problem des gebrauchenden Subjekts, nicht aber des Werkzeugs oder des Designs des Werkzeugs sei. Leider ist die Idee, Medien wären reine Werkzeuge insbesondere bei Kommunikationsmedien mit Blick auf Gesellschaft, Kultur und Psychen naiv.

 

In Bezug auf Gesellschaft ist die Vorstellung Kommunikationsmedien wären Werkzeuge allein deshalb naiv, weil jedes Kommunikationsmedium besondere Formen von Unbestimmtheit, Sinnüberschüsse und damit Unruhe erzeugt.[2] Dies gilt für das archaische Medium „Sprache“, ebenso wie für die sozialen Medien der digitalen Gesellschaft. Bereits der erste je gesprochene Satz schuf die Möglichkeit, die Welt in einer Ja- und einer Nein-Version zu beschreiben. Damit Lüge, die Falschbehauptung und ein ernstzunehmendes Ordnungsproblem in der Welt. Denn nun müssen Mittel und Wege gefunden werden mit dieser medial erzeugten Unbestimmtheit umzugehen und das Ringen, um Konsens zu organisieren. Die systemtheoretische Soziologie arbeitet an dieser Stelle mit einem Vier-Stufen-Modell gesellschaftlicher Strukturentwicklung – Stammeskultur, geschichtete Gesellschaftsstruktur, funktional ausdifferenzierte Gesellschaftsstruktur[3] und nachmoderne Gesellschaftsstruktur – bei dem die jeweiligen Strukturen als Lösungen aus den Zumutungen der Kommunikationsmedien hervorgehen, denen eine Gemeinschaft ausgesetzt ist. Damit ergibt sich ein grobes Ablaufschema: Sprache führt zu Stammeskultur, Schrift zu geschichteten Gesellschaftsstrukturen, Buchdruck zur funktional ausdifferenzierten Gesellschaft der Moderne und digitale Medien zu einer modernen Gesellschaft, deren Strukturform gegenwärtig noch in der Entwicklung steckt. In all diesen Entwicklungen werden vorangegangene Strukturen aber nicht vollständig aufgelöst, sondern überlagert. Die Umstellung erfolgt auch nicht ad hoc oder mittels eines Masterplans, sondern über einen längeren, durchaus konfliktbeladenen Zeitraum in dem sich evolutionär erfolgreiche Formen durchsetzen. Dabei ist die Struktur den Medienevolutionen nachläufig. Dies bedeutet, jedes neue Medium muss die Strukturen, die als Lösung für das Chaos entwickelt wurden, die ein anderes Medium ausgelöst hat, zwangsläufig überlasten.

 

…und beschert uns neben teutonischen Querdenker*innen auch jenen besagten Büffelmenschen im Kapitol.

Gegenwärtig sind es unsere heißgeliebten sozialen Medien, die gesellschaftliche Strukturen gehörig unter Druck setzen, die auf die Möglichkeiten und Überraschungen dieser Medien nicht ausgelegt sind. Und hier wird es nun toxisch, da man sich auf nichts mehr verlassen kann. Jüngstes Beispiel sind die auf Reddit verabredeten, subversiven Ankäufe von Gamestopp-Aktien (geschehen im Januar 2021, Anm. d. Redaktion), die zielgenau die etablierten Akteure und Ordnungen des Stockmarkets unter Druck setzen. Die mittels Social Media vorbereitete Verabredung auf ‚Buy and Hold‘ schafft für die Hedgefonds eine ähnlich unangenehme Enttäuschungssituation, wie das unzuverlässige Dateverhalten von toxischen Beziehungspartner*innen. Die passenden Kränkungsäußerungen ließen nicht lange auf sich warten.

Auch der Wissenschaft geht es nicht anders: pandemiemotiviert machen sich Milliarden von selbsternannten Statistiker*innen, Viro- und Epidemiolog*innen, Soziolog*innen, Pädagog*innen und Wirtschaftwissenschaftler*innen daran, nicht nur eigene Berechnungen und Forschungen vom Homeoffice-Sofa aus zu verbreiten, sondern auch ganz eigene Konsistenz- und Kohärenzketten einem breiten Publikum zu präsentieren, das die Produkte der Wissenschaft auf Grund ihrer trockenen Darreichungsform in Wort und Bild noch nicht einmal zur Kenntnis genommen hat. In den Social Media Formen kommt es auf den Unterschied zwischen DNA und RNA, den Feinheiten von bildgebenden Verfahren, der Bewertung von Studiendesign und statistischen Erhebungen auch nicht mehr an. Millionenfach geteilt, dabei in immer schrilleren Tönen verfasst geraten dabei die klassischen Angebote der Wissenschaft auf eine nie dagewesene Weise unter Druck. Ihre Darreichungsform ist schlichtweg nicht dramatisch genug, um mit den emotional aufgeladenen Alternativvorschlägen auf Social Media mithalten zu können. Wie in jeder guten toxischen Beziehung wird mit Drama die Bleibewahrscheinlichkeit gesteigert, denn das dargebotene Drama macht auch ein kleines bisschen süchtig.

Auch innerhalb der politischen Sphäre, treibt das graue Rauschen von zusätzlichen Möglichkeiten, Sinnüberschüssen und Kommunikation munter die Handlung voran und beschert uns neben teutonischen Querdenker*innen auch jenen besagten Büffelmenschen im Kapitol. Schade ist es allerdings um die schöne Idee vom Querdenken. Sie wird vielleicht nie wieder ihre optimistische Konnotation zurückgewinnen und in den agilen Managementseminaren wird man sich ein neues Buzzword suchen müssen.

Hier zeigen sich die kulturellen Folgelasten der toxischen Beziehung. Die Erosion von Werten und geteilten Ideen. Oder um mit es mit Jon Bon Jovi zu sagen: You gave love a bad name. Ganz gleich ob Demokratie, Aufklärung, Liebe, Frieden Freiheit oder eben Querdenken; in Social Media Formaten lässt sich beobachten, dass Werte zwar noch ganz klassisch „Superunbezweifelbares“[4] in Kommunikationssituationen symbolisieren, dies aber nicht mehr ausreicht um außerhalb des eigenen digitalen Resonanzraumes Gehör zu finden. Bis vor Kurzem konnte man sich, wenn man in Kommunikationen nicht mehr weiterwusste auf gesellschaftlich geteilte Werte berufen. Also auf Verabredungen und tradierte Abkürzungen, die unscharf genug waren, um als gemeinsam Geteiltes zu fungieren. Aber Werte funktionieren auf diese Weise nur, wenn man mit ihnen und nicht über sie kommuniziert.[5] Man also nicht in jeder Situation genau ausformuliert, was unter Meinungsfreiheit oder Demokratie zu verstehen ist. Dieses Nichtausformulieren wird jedoch unter der Erfahrung von Pluralität zum Problem. Allein die schiere Anzahl der werteadressierenden Kommunikationen, mit denen wir täglich in unseren Social Media Aktivitäten zu tun haben, zwingt uns ganz nebenbei zu einem Pluralitätsbewusstsein und dem unguten Gefühl nicht so ganz zu wissen, in welchen Fahrwasser Liebe, Freiheit und Demokratie in einem bestimmten Post schwimmen.

Am folgenreichsten ist die Fehlinterpretation von Medien als Werkzeugen wohl aber an der Schnittstelle zu Psychen, deren unheimliches Eigenspiel für uns so intransparent und folgenreich vonstattengeht, dass man unter Normalbedingungen, und meist nur mit therapeutischer Hilfe, beschränkte Zugriffsmöglichkeiten erhält. Hier schlägt uns zu dem auch noch die noch immer dominante Vorstellung, der Menschen sei ein rein rational handelndes Wesen, dessen moderne Aufgeklärtheit in reflexiv abwägenden Handlungen mündet, ein ziemliches Schnippchen. Wer gibt schon gerne zu, mit der Mouse, äh dem letztem, rotweingeschwängertem Social Media Post ausgerutscht zu sein. Dabei natürlich ist die eigene Aktivität im Klicken, Posten, Kommentieren und affiziert sein alles andere als rein rational.

 

Welche Angebote sichtbar werden entscheidet ein auf die Nutzer*innen und ihre Erwartungen zugeschnittener Algorithmus …

Es müssen noch nicht einmal die aus Sensationslust angesurften Bermudadreiecke des Absurden, Gemeinen und Radikalen sein, die auf die eine oder andere Art eine Resonanz im psychisch-emotionalen Haushalt finden und Selbstbilder verunsichern. Es reicht eigentlich ein einfacher Post, der irgendein beliebiges Symbol des gelingenden Lebens zeigt. Egal ob Achtsamkeitsübungen, selbstgemachtes Sauerteigbrot oder das neubezogene Eigenheim, schon ist der bohrende Vergleich des Eigenen mit einem unvollständigen Bild des Fremden da und mit ihm der Zweifel, der Neid und das Befragen des eigenen Lebensentwurfs.

Und noch etwas darf bei all dem nicht vergessen werden: Social Media Formate sind nicht passiv. Sie warten nicht wie der Inhalt eines Werkzeugkastens auf Gebrauch, sondern beobachten, sammeln Daten, clustern Muster und schlagen Angebote vor, ermöglicht durch die nie gelesenen Nutzungsvereinbarungen. Welche Angebote sichtbar werden entscheidet ein auf die Nutzer*innen und ihre Erwartungen zugeschnittener Algorithmus, der die präsentierten Beiträge und Kommunikationspartner*innen bereits auf die jeweiligen Vorlieben angepasst hat. Eins A Stalker*innenqualitäten. Der Fun Fact bei all dem: Die Algorithmen sind nicht aus purer Freundlichkeit oder Liebe zu uns auf diese Weise programmiert. Sie liefern ein virtuelles, auf das unser Akzeptanzniveau angepasste Bild von der Welt mit den entsprechenden Kommunikationsangeboten. Das ist natürlich praktisch, denn so lässt sich nicht nur der Eindruck erwecken, die eigene Wirklichkeitserfahrung entspräche der allgemein geteilten Einschätzung der Welt, sondern auch erhebliche Gewinne einzufahren und die nächsten Schritte des Individuums zu prognostizieren. Realitätsverzerrung und Manipulation sind – wie könnte es anders sein – klassische Bestandteile einer toxischen Beziehung. Einer Beziehung, die auf einem alten Grundparadox der menschlichen Seinsverfassung aufsitzt: der gleichzeitigen Suche nach Zugehörigkeit und Individualität. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer. Es wird aus diesem Grund auch keine sozialen Medien geben, sondern immer nur Medien, die gleichzeitig asozial-soziale Medien sind. Der Ausstieg aus der toxischen Beziehung zu diesen Medien hingegen könnte irgendwann gelingen, allerdings müsste die entsprechende Ratgeberliteratur noch geschrieben werden. Aber das mache ich dann ein anderes Mal.

[1] Kross E, Verduyn P, Demiralp E, Park J, Lee DS, Lin N, et al. (2013) Facebook Use Predicts Declines in Subjective Well-Being in Young Adults. PLoS ONE 8(8): e69841. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0069841

[2] Baecker, Dirk (2015); Designvertrauen. Ungewissheitsabsorption in der nächsten Gesellschaft

[3] Luhmann, Niklas (1984); Soziale Systeme

[4] Luhmann, Niklas (1997); Die Gesellschaft der Gesellschaft, S.1122.

[5] Luhmann (1997); S.1123.

Text: Sndra Groll

Illustration: Oskar Nehry