Late Responder: Documenta fifteen

Wenn dieser Text erscheint, sind die hundert Tage der fünfzehnten Documenta verstrichen. Kassel ist wieder Kassel und die Erregungszustände dürften sich nach der mittlerweile obligatorisch gewordenen Forderung nach einem grundsätzlichen Ende der ganzen Veranstaltung, neuen Themen und anderen Gegenständen zugewandt haben. Schließlich wurden bereits nach der von Adam Szymczyk geleiteten documenta 14 Stimmen laut, die angesichts der erheblichen finanziellen Verluste ein Ende der öffentlichen Finanzierung einforderten. Ähnliches wird nun auch angesichts des Antisemitismuseklats auf der vom Künstlerinnenkollektiv ruangrupa organisierten documenta fifteen, gefordert. Dies dürfte allerdings, wie im vorangegangenen Fall, nur eine symbolische Form des Prozessierens der Wirkung der documenta fifteen darstellen. Denn wirksam, das war sie auf jeden Fall und dies gleich auf mehrfache Weise. So trieb sie unabhängig vom Eklat um antisemitische Bildsprachen die üblichen First Responder in Sachen Einordnung und Kritik zu ganz grundsätzlichen Äußerungen. Etwa Bazon Brock, der im Kollektiv einen Gegenspieler zur subjektiven Autorenschaft, „der im Namen der Kunstfreiheit die Kunst liquidiert.“ sieht. Für diese Position muss man natürlich zum einen die Kunst auf die Figur des subjektiven Autors reduzieren und dann, wie es Brock tut, Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen gleichsetzen, weil sich beide ohne ihre Perspektiven ohne absichernde soziale Strukturen durchsetzen. Eine etwas fragwürdige Position schließlich dürfte die funktional ausdifferenzierte Moderne deutlich vorgeführt haben: Dass es für Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen eben doch auf die legitimierenden Strukturen im Hintergrund ankommt. Auch der aus dieser Konstruktion abgeleitete Schluss auf ein Ende der Kunst, dürfte sich als Fehlschluss erweisen. Denn nichts scheint sich hartnäckiger selbst zu erhalten als die Kunst, die von ihren reflexiven Rändern in Kunstwissenschaft und Kritik schon oft den ein oder anderen Tod gestorben ist und sich in der Gegenwart dennoch als recht lebendig erweist.

Bildungsbürgerliche Intellektualität ist schlussendlich auch eine performative Praxis (…)

Grundsätzlich ist es manchmal eben doch ratsam, gerade nicht als First Responder aufzutreten, sondern ein wenig zu spät zu kommen, dafür aber ein wenig mehr den Gesamtkomplex beobachten zu können. Ich mochte dies eigentlich immer schon: Ausstellungen, die ihren zeitlichen Zenit bereits überschritten hatten, Exponate mit Patina und ersten Erschöpfungszuständen, bereits abklingenden Erregungszuständen in den Diskursen und den Verlust des symbolischen Neuigkeitswertes, den ein Bericht über den Besuch und die Würdigung einer aktuellen Ausstellung als First Responder grundsätzlich besitzt. Zu spät zu kommen entlastet ein wenig von dem schalen Gefühl, die klassischen Reproduktionsmuster des Bildungsbürgertums zu reproduzieren. Man ist dann halt einfach zu spät und kann die Symbolgewinne nicht mehr ohne weiteres einfahren.
Oder eben gerade umso mehr, nicht nur sich dann natürlich etwas überraschend Neues einfallen lassen muss, denn schließlich haben alle anderen Expertinnen bereits geäußert und Deutungsmuster, Einschätzungen und Kritik medial präsentiert. Strukturell sollte man da also noch etwas draufsetzten und Beobachtung, Analyse und Einschätzung zu einem innovativen Angebot verweben. Bildungsbürgerliche Intellektualität ist schlussendlich auch eine performative Praxis, die einen gewissen Neuigkeitswert und Originalität aufweisen muss, da sie vor anderen stattfindet, von diesen wahrgenommen und als solche bestätigt werden muss. Dies alles geschieht unter der Bedingung, dass eine wiederholte Information sich fast automatisch in Nichtinformation verwandelt.

(…) nach Kassel fahren, unter Umständen stressige Kunst kucken, überfordert sein und gegebenenfalls in den Videoinstallationen einschlafen.

Man hat es also mit einer Art doing intellectuality zu tun und als solche geht es nicht nur um individuelle Performanz, sondern vor allem auch um eine soziale Erwartungsstruktur, die dazu beiträgt, dass bestimmte Muster produziert und reproduziert werden. Je nach eigener Lage werden dann bestimmte Formen möglich, sich an Kommunikation zu beteiligen. Das führt mitunter zu interessanten Ergebnissen und Phänomenen, denn für Angehörige der Kulturbranche kann auch der Verzicht auf einen documenta Besuch mit Hinweis darauf, dass gerade das diesjährige Konzept zu einer Sozialpädagogisierung der Kunst beiträgt, einen Symbolwert bedeuten. Dazu bedarf es dann allerdings eloquenten Zusatzkommunikationen und natürlich einiger Mühe im Vorfeld, schließlich muss auch diese Strategie erst einmal entwickelt werden.
Für die meisten anderen besitzt ein Documenta-Besuch hingegen durchaus Symbolwert und lässt sich ganz beiläufig in Alltagskommunikation einflechten, um auf das eigene kulturelle Kapital hinzuweisen und auf die entsprechenden Mühen, die man bereit ist, auf sich zu nehmen, um dieses zu realisieren. Mit einem Augenzwinkern hier: nach Kassel fahren, unter Umständen stressige Kunst kucken, überfordert sein und gegebenenfalls in den Videoinstallationen einschlafen. Diese real gelebte Praxis wird höchst wahrscheinlich eher weniger offen thematisiert, denn man verlässt sich darauf, dass die üblichen First Responder im Bereich der Kunstkritik bereits einfach zu adaptierende Deutungs- und Kritikmuster bereitgestellt haben, mit denen sich dann schnell auch die vermeintlich originäre Kurzeinordnung der eigenen Erlebnisse und Position zusammenbauen lässt.
Allerdings operieren auch diese Erstkommentierenden meist mit recht typischen Mustern, die eine Art Algorithmus bilden, in dem nur die jeweiligen Werte und Gegenstände getauscht werden müssen. Ein prominentes und gern genutztes Muster, zeitnah die Erwartungs- und Erregungsstrukturen zu bedienen und entsprechendes Versatzstück für bildungsbürgerliche Deutungsangebote, besteht im Ausrufen des „Endes von XY“. Gerne mit betont kritischen Impetus und gefolgt von der eleganten Wendung, dass genau aus diesem Grund, Ausstellung Z bedeutsam sei. Es existieren natürlich auch eher affirmative Muster, die allerdings im Hinblick auf die allgemeine Aufmerksamkeitsökonomie im Nachteil sind, da sie meist reibungslos an das jeweilige kuratorische Konzept und den entsprechenden Pressetexten anschließen. Ein höherer symbolischer Gewinn lässt sich aus diesem Grund zweifellos eher mit Absetzungsversuchen einfahren.
(…) dass es immer wieder auch zum Eklat kommt. (…) Eine documenta ohne Skandal dürfte auf funktionaler Ebene unvollständig sein (…)

Aber auch Late Responder Beiträge bilden dem entsprechenden Muster. Das beweist am Ende auch dieser Text, der nach Ablauf der eigentlichen Veranstaltung erscheinen wird, aber ebenfalls eine Deutungs- und Beobachtungsvorlage anbietet, mit der dann individuell weitergearbeitet werden kann. Der Vorteil des Late Responder besteht nicht nur darin, die Reste am Ort des Geschehens zusammenzusammeln und den anschließenden Bericht für eventuell folgende Verwaltungsakte zu schreiben, sondern auch den Gesamtkomplex noch mal ein wenig anders würdigen zu können. Die Beobachtungsrichtung beginnt dann damit,
eine documenta nicht einfach nur als eine Entität aus kuratorischem Konzept gezeigten Werken und Thema zu verstehen, sondern als einen mehrdimensionalen Komplex aus höchst unterschiedlichen Elementen: Themen, Findungskommissionen, organisatorischen ebenso wie politischen und wirtschaftlichen Aspekten, Zeitphasen, Diskursen, Reaktionen, Ordnungsstrukturen, Werken, Personen, Rollen, Publikum, Stadt, Welt usw.
Eine documenta ist ein mehrdimensionales Gewebe, das sich, um die Hauptfunktion Weltkunst zu zeigen, gruppiert, dabei allerdings einen ganzen Zusatzfunktionsscluster nach sich zieht. Auf diese Weise ist jede documenta für sich einzigartig, immer wieder neu und doch Bestandteil einer Reihe und vergleichbar mit den anderen. Und das ist das Schöne an diesen einzigartigen Formen in Serie: Es lassen sich in ihnen eben auch wiederkehrende Muster finden. Zum Beispiel, dass es immer wieder auch zum Eklat kommt. Sei es nun der Umstand, dass die documenta 14 im Nachgang finanziell gerettet werden musste oder eben auch antisemitische Ikonografie auf der diesjährigen documenta. Diese Beobachtung möchte ich allerdings nicht missverstanden wissen, denn in keiner Weise zielt mein Argument an dieser Stelle darauf ab, antisemitische Ikonografie in den gezeigten Werken zu legitimieren. Mein Argument ist, dass eine documenta als Gesamtkomplex eben auch deshalb erfolgreich und notwendig ist, wenn es zu einem Skandal kommt. Anders formuliert: Eine documenta ohne Skandal dürfte auf funktionaler Ebene unvollständig sein und schlimmer noch: ein leicht zu konsumierendes Gut, das anschlussfähig ist an einen Status quo der Welt, an den Kunstmarkt und sie hinterlässt ein unprovoziertes Publikum.

Schlussendlich war auch die documenta fifteen einzigartig und produktiv (…)

So ist der Eklat um antisemitische Bildsprachen eher eines der Erfolgsmerkmale der diesjährigen documenta, denn er lenkt den Blick nicht nur auf das globale Thema Antisemitismus, sondern auch auf einen allzu leichtfertigen Umgang und eine Überschätzung von Gegenfiguren wie etwa der Idee, dass partizipative Prozesse und Kollektive uns grundsätzlich zu einer besseren Welt verhelfen würden. Ähnliches gilt für die reichlich koloniale Romantisierung nichtwestlicher Perspektiven, die einen deutlich blinden Fleck in den gegenwärtigen Diskursen bildet. Und in diesem Sinne hat der Eklat seine strukturelle Funktion erfüllt. Nämlich durch die ausgelöste Entrüstung Themen und Problemfelder zu sichtbar zu machen, die sonst eher latent bleiben. Auf diese Weise werden gleichzeitig auch Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit allerlei blinden Flecken gegeben, die sich im Fall des documenta Anspruchs Weltkunst zu repräsentieren, nun einmal aus den höchst unterschiedlichen globalen, historischen und sozialen Perspektiven und Aufmerksamkeiten ergeben. Auf diese Weise regt die diesjährige documenta höchst unterschiedliche Anschlussoperationen an: Kommunikationen, Handlungen und allerlei symbolische Aktivitäten: Abbau des fraglichen Werkes, personelle Konsequenz, Abzug von Arbeiten durch Künstlerinnen, Rücktritte der Generaldirektorin, Bildung und Einsatz eines beratenden Expertinnengremiums, Überprüfung weiterer Arbeiten, gerichtliche Einschätzungen usw. und jeder dieser Aspekte gibt Anlass zu weiterer Beschäftigung,

Schlussendlich war auch die documenta fifteen einzigartig und produktiv, denn zum einen beziehen sowohl die Werke der jeweiligen künstlerischen Positionen und der thematische Schwerpunkt im kuratorischen Konzept bisher latent Gebliebenes in Kommunikationszusammenhänge ein und machen sichtbar, was bisher als unsichtbar behandelt wurde. Zum anderen setzt genau dies etliche Handlungszusammenhänge in anderen Kontexten in Gang und legt Zusammenhänge und Strukturen offen, die anderen normalerweise eher unauffällig bleiben.
Allerdings und auch deswegen ist die diesjährige documenta ein Erfolg, dass unterhalb der Überbietungsschlachten kunst- und kulturwissenschaftlicher Expertinnen und jenseits des Eklats über antisemitische Bildsprachen gerade Besucherinnen, die nicht zu den diskursbestimmenden First Respondern gehören, sowohl mit den Arbeiten an sich als auch mit den angebotenen Themen durchaus zufrieden waren. Denn von Medien und den üblichen Verdächtigen fast unbeobachtet und nur durch einen ganz persönlichen Gang ins Feld in Form eines documenta-Besuchs beobachtbar, konnte man anstelle der üblich kunstdiskursversierten Plattitüden des Öfteren links und rechts neben sich in Anbetracht der Themen im sogenannten globalen Süden und die in den Werken erfahrbar werdende Relation zu den Lebenswelten des Nordens, ein leises: Das habe ich nicht gewusst! hören. Und das ist dann doch ein ganz erheblicher Erfolg.

Text: Sandra Groll