Es lebe die Kritik

Seit einiger Zeit geistert für mich verstärkt ein Wort durch alle Medien: das Narrativ.
Wahrgenommen habe ich es zum ersten mal in Zusammenhang mit Donald Trump.
Er hielt so lange an einer Erzählung – in seinem Fall einer Lüge – fest, bis sie geglaubt wurde. Mittlerweile steht der Begriff „Narrativ“ für eine Behauptung, die nicht weiter hinterfragt wird und als gegeben akzeptiert wird. Wieso glauben wir Dinge, solange sie uns oft genug erzählt werden und nehmen sie als wahr hin?
Haben wir jede Kritikfähigkeit verloren?
Wahrscheinlich ist das die Wirkung von schlauer Werbung. Wir finden Produkte und Marken gut, wenn sie uns geschickt oder einfach nur oft genug angepriesen werden. Egal wie gut oder schlecht sie in Wirklichkeit sind. Zwar ist es mühsam für eine Marke diesen Status zu erreichen, bis der Konsument bedingungslos alles, was unter ihrem Namen auf den Markt gebracht wird zu mögen, aber wenn sie das einmal erreicht hat, kann man über sie fast jeden Schrott verkaufen.
Warum gibt es eigentlich keine Kultur der Kritik mehr?
Wo sind die kuratierenden Instanzen, die auch offen sagen, wenn etwas weniger toll ist? Jahrzehntelang hat diese Rolle die Presse, der Journalismus übernommen. Mittlerweile berichten noch nicht mal mehr Tageszeitungen negativ über einen Autoskandal, aus Angst vor ausbleibenden Anzeigen aus dieser Branche. In der Mode ist dieses System schon seit über 30 Jahren verankert. Der Garant für eine positive Berichterstattung in Vogue, Brigitte und Konsorten sind Anzeigen. Je mehr Anzeigen einer Marke pro Heft und Saison, desto mehr redaktionelle Beiträge findet man. Da traut sich keiner mehr irgendeine Kollektion zu verreißen. Bestenfalls gibt es eine „Review“, was aber nur beschreibenden Charakter hat und niemals eine Art der Kritik beinhaltet. Ich weiß schon, dass da eine Art neue Kultur entstanden ist, die in einer sich immer weiter globalisierenden Welt, jeden sein lässt wie er möchte. Wo man offen gegenüber den Vorlieben und Andersartigkeiten eines jeden sein möchte, weil jede Meinung so gut ist wie die eigene. Dass man aufpasst, andere nicht zu verletzten oder auszuschließen.
Das elitäre System der großen Design-Häuser, bestehend aus Nichtinformation und Distanz zum Publikum, zum Kunden ist überholt, die meisten haben das verstanden.
Das ist auch in Ordnung so. Aber das muss ja nicht bedeuten, dass man nicht mehr Dinge kritisieren kann bzw. richtig blöd findet und das auch zum Ausdruck bringt. Gerade in der Mode, wo trotz Kinderarbeit, fragwürdigen Produktionsbedingungen, Umweltverschmutzung und vielen anderen Missständen, immer mehr und immer schneller produziert wird. Wo nicht nur in der Fast Fashion die Kollektionszirkel immer schneller geworden sind, kann die Design-Qualität nicht immer gut sein. Wie auch – so schnell kann man sich so viele neue Dinge gar nicht ausdenken.Entweder kopieren sich alle gegenseitig, weil niemand den richtigen Trend verpassen will, oder man wird abseitig und schräg, um sich überhaupt noch abzuheben. Aber eigentlich ist von allem zu viel da. Jede Jugendkultur, jede Nische ist geplündert. Selbst die kleinste Subkultur wird sofort kommerzialisiert. Und keiner ist da, um das zu kommentieren. Man wird allein gelassen mit einem Berg voller Klamotten. Der Markt soll entscheiden, was funktioniert oder nicht. Aber ein bisschen Licht ist am Ende des Tunnels. In der Februar Ausgabe 2020 von Harpers Bazaar sagte der Designer J.W. Anderson: „….In letzter Zeit habe ich mich intensiv mit Kritik beschäftigt. Konstruktiver Kritik wie im Ballett oder in der Oper. Uns fehlt das, denn in der Mode müssten die Brands dafür Kontrolle abgeben. Sie ist durch das Anzeigengeschäft vergiftet, weil das jegliche Wahrheit unterbindet. Eine aufrichtige Kritik kommt nicht von jemanden, der auf das Werbebudget angewiesen ist.“
Aber wie viele Labels haben das Selbstbewusstsein, sich konstruktiv kritisieren zu lassen und trotzdem nicht das Anzeigenbudget als Strafe zu kürzen? Und wer wird sich trauen, offene Worte zu schreiben bzw. zu sagen? Eigentlich müsste es im Interesse einer Marke sein auch schlecht kritisiert zu werden. Auch das bringt Aufmerksamkeit, der Leser wird sich anders mit der Marke auseinandersetzen und das Magazin wird an Glaubwürdigkeit gewinnen. Aber das dauert. Es wäre schön wenn da wieder alle an dem gleichen Strang ziehen würden. Nur, wenn auch wieder Kritik erlaubt ist und nicht durch Anzeigenbudget mundtot gemacht wird,
können wir in einer Welt mit zu viel Informationen und zu wenig Glaubwürdigkeit, wieder an Dinge glauben.

Text: Stephan Ziehen