Eigentum
Wolf Haas
Roman Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München, 2023
160 Seiten
Als ich nach dem Buch „Eigentum“ griff, dachte ich, es handle sich um eine sozialkritische, unsere aktuelle krisenhafte Zeit beleuchtende, nach Haasscher Manier pointiert bittersüße Abhandlung. Ich war interessiert. Ich denke selbst seit geraumer Zeit über Eigentum nach und wie schwierig sich die Umsetzung in unserer, meiner Welt gestaltet.
Weit gefehlt – bis auf das „pointiert bittersüße“. Die ersten beiden Absätze leiteten auf eine andere Spur, auf eine gute, auf die ich mich sofort einließ und ihr gerührt, laut auflachend, mit leidend, mich an meine Eltern erinnernd und mit viel Wärme in der Brust folgte.
Belügt man etwa seine demente und voraussichtlich nicht mehr lang lebende Mutter – nicht wissend, dass sie zwei Tagen später tatsächlich sterben wird – nur, um ein wenig mehr Spass zu haben? Um den Besuch im Altenheim etwas interessanter zu gestalten? Wen darf man überhaupt belügen, selbst wenn es eher als ein zärtliches Auf-den-Arm-Nehmen interpretiert werden kann? „Konnte man Auf-den-Arm-nehmen nicht als lustige Schwester von in-den-Arm-nehmen gelten lassen?“.
„Nur Dein Vater hat einen Schnupfen.“
Worum geht es in dieser Sache konkret: Wolf Haas besucht seine an Demenz erkrankte, fast fünfundneunzig jährige Mutter im Altenheim. Sie bittet ihren Sohn, ihre Eltern anzurufen, um ihnen mitzuteilen, dass es ihr gut geht. Die Tatsache, dass es ihr plötzlich gut ginge, nachdem er sein Leben lang gehört hatte, dass es ihr nicht gut ginge, verleitet ihn vermutlich dazu, dieses seicht ungehörige Spiel mit ihr zu treiben – und sich selbst damit ein Bein zu stellen. Wohl wissend, dass die Eltern nicht auf einen Anruf reagieren konnten, weil schon sehr lange tot, ja, zu ihrer Zeit wirklich kein Festnetztelefon ihr Eigentum nennen konnten, berichtet Herr Haas seiner dementen Mutter am darauffolgenden Tag, von seinem Gespräch mit ihren Eltern. Und wie soll es anders sein? Es gehen die Pferde mit ihm durch. Trotz eindringlicher Selbstermahnung nicht zu dick aufzutragen, und sich schlicht an knappe Fakten wie „liebe Grüße zurück, ihnen geht es auch gut.“ zu halten, schmückt er die Antwort aus: „Ich hab angerufen. Liebe Grüße von allen, es geht ihnen auch gut. Nur Dein Vater hat einen Schnupfen. Aber er ist schon auf dem Weg der Besserung.“ (…) „Den Schnupfen hätte ich mir wirklich sparen können. Ich war ein unbeherrschter Mensch. Diese schlechte Eigenschaft hatte ich von ihr. Jetzt kam die gerechte Strafe.“
Denn was folgt ist das, was die Mutter am besten beschreibt: rührend strenges Sich-Sorgen um die Lieben, immer mit einem Ton des Vorwurfs und dieser noch mit einem doppeltem Boden versehen, der es nicht einfacher macht, das Mitgefühl, die Zuneigung und Liebe, die eigentlich dahinterstecken, zu erkennen.
Mutter: „Weil er nie aufpasst!“
(…)
Mutter: „Hat er Husten auch?“
Sohn:„Nein nein. Er ist eh schon auf dem Weg der Besserung.“
(…)
Mutter: „Hat er Halsweh auch?“
Sohn:„Nein, gar kein Halsweh. Nur ein bisschen Schnupfen. Und der ist auch schon vorbei.“
Mutter: „Bestimmt hat er sich in der Werkstatt verkühlt.“
(…)
Mutter: „Brennnesseltee“
Sohn:„Was?“
Mutter: „Einen Brennnesseltee soll er trinken, wenn er verkühlt ist.“
Sohn: „Er ist eh schon auf dem Weg der Besserung“
Mutter: „Das sagst Du immer! Bin eh schon auf dem Weg der Besserung. Und dann schnupfst Du wieder wochenlang.“
Diese Situationsbeschreibung gibt nur einen sehr kleinen Einblick in die Mutter-Sohn-Beziehung, die den gesamten Roman aus- und so wahnsinnig lesenswert macht. Wolf Haas erzählt das von Leid, Entbehrungen und ewigen Sorgen geprägte Leben seiner mit sich selbst und allen anderen sehr strengen aber nicht humorlosen Mutter anhand – das macht den Stil so besonders – seiner Gespräche mit ihr während ihrer letzten zwei gemeinsamen Tage. Die Gespräche werden von seinen Ergänzungen, der Geschichte seiner Familie, Anekdoten aus seiner Kindheit, Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit, seiner eigenen Geschichte begleitet und bringen mich trotz der immer wieder durchklingenden Schwere so zum Lachen, dass mir die Tränen kommen. Und das schafft Wolf Haas, ganz ohne sich auf einen schmalen Grad zu begeben. Man könnte ja meinen „Oh je, er macht sich über seine im Sterben liegenden Mutter lustig, amüsiert sich auf ihre Kosten!“ Oder „Ach je, muss man so zynisch sein, um den Verfall der eigenen Mutter zu kompensieren?“ Im Gegenteil, es sind so voller Liebe gespickte Seiten, es ist ein am Leben der Mutter so Anteil nehmender Bericht, dass es anrührt und mein Bedürfnis nach „unterhaltsamer Lektüre“ zu 100% erfüllt.
„Eine platzsparende Feuerbestattung kam nicht in Frage.“
Aber warum eigentlich dieser Titel „Eigentum“? Die Mutter – sie hieß Marianne, kürzte sich aber seit jeher selbst mit „Mar.“ ab – ist ihr Leben lang bestrebt, Eigentum zu erwerben. Haas nennt es ihr „Lebensprojekt“. Trotz größter Anstrengungen und einer gewissen Strategie folgend, gelingt es ihr nicht. Widrige Umstände verwehren ihr diesen Plan immer aufs Neue. In erster Linie die verfluchte Inflation: „Und dann ist die Inflation gekommen und das Geld war hin“. Sie sprach so oft über das wie und warum des Eigentumsbeschaffens, dass Haas schon im Kleinkindalter wusste, wie wichtig es ist, auf Eigentum hinzuarbeiten. „Die drei Phasen des Bausparvertrages (Sparphase, Zuteilungsphase, Darlehensphase) hielt ich für einen Kinderreim. Die Berechnung der Bewertungszahl beherrschte ich im Schlaf. Als ich in die Volksschule kam, war ich bereits Professor für Inflationstheorie.“
Ihren Wunsch nach Eigentum nimmt Haas mit, bis nach ihren Tod: es geht um die Frage der Bestattung. Traditionelle Erdbestattung? Zeitgemäße Feuerbestattung (nachhaltiger, ressourcen- und platzsparender)? „Eine platzsparende Feuerbestattung kam nicht in Frage. Unsere Mutter, die ihr Leben lang auf den ersten Quadratmeter hingespart hatte sollte ihr schlussendlich auf immerhin 1,7 Quadratmeter angewachsenes Grundstück voll ausnützen. Die 1,7 Quadratmeter in bester Lage standen ihr zu, platzsparende Konzepte sollten andere umsetzen.“
Auf den gerade mal 160 Seiten kommen Haassche Gedanken zu Sprache nicht zu kurz. Sei es ein Ausflug zur Tractatus-Nummerierung, der ausgedehnte Kommentar der „dreisten Selbstermächtigung“ seiner Mutter, ihren Namen auf Mar. abzukürzen, die Pedanterie seiner Mutter, Sachverhalte zu präzisieren, obwohl sie sich aus dem KONTEXT ergaben, sich dem Wort Beileid in seinen Einzelteilen und seiner Bedeutung zu widmen … das sind nur wenige und vielleicht noch nicht mal die besten Beispiele, die – ich sage es erneut – dieses Buch so lesenswert machen.
Lesen!
Words: Henrike Heick