Auf der Suche nach der verlorenen Einheit oder Besser einschlafen mit dem Internet
Lange Zeit schon gehe ich spät schlafen und anders als Marcel Proust fallen mir die Augen weder über einem Buch zu, noch setzt ein Herumstreifen der Gedanken in der reichen inneren Erfahrungswelt ein. Es ist eher ein Betäubungszustand, der mich vorspannlos schlafen lässt und der ohne die üblichen kleinen Hilfen in Pillenform oder Alkoholkonsum auskommt. Auch solide Achtsamkeitsrituale spielen hier keine Rolle. Ganz im Gegenteil, es ist eine Überdosis an Informations-, Kommunikationsangeboten und entsprechend Erlebnisvorlagen, der unzähligen Informations- und Wahnsinnscluster des Internets. Eine Art weißes Rauschen, erzeugt durch eine Überlastung mit Komplexität und Pluralität. Ein emotionales und kognitives in-die-Knie-gehen im Angesicht des Chaos der sozialen Welt und dem gut zu beobachtenden institutionellen und individuellen Scheitern an den dringlichsten Aufgaben in dieser Welt. Während sich soziale, politische, ökonomische und ökologische Krisen überlagern, verstricken sich Individuen und Institutionen in seltsam schematischen Kommunikationsformen und einer unendlichen Kakophonie aus feinteiliger Absurdität. Eigentlich bedürfte es kollektiver Anstrengungen, um es mit den Krisen unserer Zeit aufzunehmen, also gemeinsamen Handlungen, denen eine gemeinsame kommunikative Abstimmung darüber vorausgeht, was denn die Handlungsziele wären. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer, denn je nach sozialer, psychologischer oder kultureller Position, zeigen die jeweiligen Krisen eine völlig andere Gestalt und legen damit unterschiedliche Lösungsansätze nahe und dies erzeugt wiederum Kommunikationsbedarf.
…erzeugt die interne kommunikative Komplexität der modernen Weltgesellschaft, die gleichzeitig mit selbsterzeugten Folgen in der Umwelt und in sich selbst (…) zurande kommen muss, eine zynische Produktivität
Und überhaupt werden ja ganz unterschiedliche Äußerungskulturen gepflegt: von feinsinniger Reflexion über das völlige Ausblenden bestimmter Problemlagen bis hin zur Aufforderung zum Umsturz ist alles dabei. Und dann sind da noch die kleinen, ganz individuellen Alltagsüberforderungen und Fragestellungen, die ebenfalls gelöst werden wollen. Ganz triviale Angelegenheiten, wie eben die Frage „Wie schlafe ich möglichst schnell ein?“. Und genau hier erzeugt die interne kommunikative Komplexität der modernen Weltgesellschaft, die gleichzeitig mit selbsterzeugten Folgen in der Umwelt und in sich selbst – also entsprechenden Umweltdruck und ihrer internen Komplexität – zurande kommen muss, eine zynische Produktivität. Der Verlust der eigentlich immer schon imaginären Einheit, lässt sich hervorragend als
kognitiver Notausschalter nutzen und den wachen Tag beenden. Achtsamkeitscoaches und Schlafforscherinnen dürfen nun die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, geben sie doch unisono die Anweisung, die Bildschirmzeit in den Abendstunden frühzeitig zu reduzieren und mit Entspannungsritualen Körper und Geist auf den Schlaf vorzubereiten. Also durch körper- oder geistbezogene Rituale, Komplexitätsreduktion zu betreiben.
Vermutlich dürfte die allgemein gelebte Praxis dann allerdings doch der eben vorgestellten ähneln und das allabendliche Betäuben mit Information deutlich verbreiteter sein als ein achtsames Zubettgehen mit Meditation und Atemübungen. Ein Ritual ist im Übrigen auch sie, nur dass es in diesem Ritual nicht um Komplexitätsreduktion, sondern um Komplexitätskonfrontation geht, der allerdings der Schrecken durch eine eher beobachtende, denn interagierende Position genommen ist.
Ganz hartgesottene Personen wagen sich auf Telegramm vor, für normal Sterbliche hingegen reichen die auf Twitter trendenen Themen.
Für ein effizientes Einschlafen in der Spätmoderne empfiehlt sich also eine Überdosis aus Information und Kommunikation, möglichst arbiträr zusammengestellt und durchaus emotional angereichert. Aber erst der richtige Mix und die richtige Strategie macht‘s: Eine kurze Stipp-Visite in die Eckkneipen von Social Media, um mit wohligen Schauern als Gaffer, der kommunikativen Kneipenschlägerei beizuwohnen und die allgemeine Wild-West-Stimmung zu genießen. Ganz hartgesottene Personen wagen sich auf Telegramm vor, für normal Sterbliche hingegen reichen die auf Twitter trendenen Themen. Ganz wichtig ist für ein gesundes und komatöses Einschlagen: Nicht eingreifen und nicht interagieren, denn wer sich dazu hinreißen lässt, in die Kakophonie aus Informationen unklarer Provenienz, schrägen Vergleichen und Selbstdarstellung mit einzusteigen, dürfte eher eine unruhige Nacht haben. Stichwort hier: den emotionalen Resonanzraum nur kurz nutzen und sich nicht von den Algorithmen in einen emotionalen Steigerungsverlauf locken lassen. Nur ankucken, nicht interagieren ist also das Motto der Push-Phase dieser Einschlafroutine. Um jedoch wirklich ermattet an der Überschusssinnerfahrung der Gegenwart in den Schlaf zu sinken, bedarf es noch einer Cool-Down-Phase. Als Counterpart zu dem Aufeinanderprallen der Meinungen, Wünsche, Drohungen und Äußerungen mehr oder weniger menschlicher Akteure, geht es im Cool Down um möglichst kleinteilige und eher sachliche Informationen, mit geringer Erregungswahrscheinlichkeit. Etwa die Hintergründe des 30-jährigen Krieges recherchieren, Konstruktionsanleitungen für möglichst echtwirkende Furry-Kostüme zu realisieren oder die mathematischen Grundlagen der Stringtheorie. Die konkreten Inhalte sind natürlich individuell zu setzen, sollten jedoch möglichst abwegig und ohne Resonanzraum zu echten persönlichen Interessen gelagert sein. Möglichst wenig Ich-Bezug und möglichst weit weg von der eigenen Alltagwirklichkeit oder Leidenschaften. Wichtig ist nur die strukturelle Verzahnung von einer Push-Phase mit krawalliger Kommunikation und einer Cool-Down-Phase mit kleinteiliger, eventuell nutzloser Information.
…natürlich erweisen sich die meisten spätmodernen Problemlagen der Welt als Probleme, auf die man nicht mit simplen Planungsverfahren reagieren kann, denn sie nehmen an jedem Ort unterschiedliche Gestalt an.
Der eigentliche Trick passiert dann aber auf anderer Ebene, denn dieses Internet ist ja voll von Themen und ihren Kontroversen. Also ein Ort an dem Zustandsänderungen von Welt und die Problemlagen von Gesellschaft in Beiträgen abgebildet werden, aber immer nur in Teilaspekten. Angelegenheiten, die auch als Teilaspekt zum Nachdenken und Handeln auffordern. Und dieser Aufforderung wird – das ist die gute Nachricht – in den Teilbeiträgen auch entsprochen. Nur anders – das ist die schlechte Nachricht – als wir es erwarten. Während wir also in unseren Beiträgen auf übergreifende Problemlagen Bezug nehmen, diese Problemlagen aber von unseren Positionen aus höchst individuell beschreiben, Lösungsvorschläge skizzieren und dabei meist unterkomplex bleiben, spukt in den Hinterköpfen immer noch die Idee, dass sich die Welt mit den richtigen Maßnahmen instrumentell steuern lässt. Das endet dann in Vorstellungen wie: Wenn nur alle „richtig“ aufgeklärt sind, klappt das schon mit dem gemeinsamen, problemorientieren Handeln. Schön wär‘s. Die unbewusste aber kollektiv-geteilte Vorstellung davon, wie mit Komplexität und den entsprechenden Problemlagen umzugehen sei, ist also seltsam verrückt und dennoch hängen alle gesellschaftlichen Bereiche der völlig absurden Vorstellung nach, dass der chaotischen Vernetztheit der Welt, ihren Problem und Krisen, irgendwie doch noch eine Vereinheitlichung abgerungen werden kann, und dass die meisten Probleme und Konflikte doch ganz einfach zu lösen seien, wenn diese Einheit nur erst einmal wiederhergestellt sei. Manche Beiträge überspringen das Moment der wiedergefundene Einheit auch komplett und setzen dafür ein Externalisierung durch Personifizierung. Das mündet dann in Forderung wie „XYZ muss weg!“. Natürlich ist das kein konstruktiver Beitrag und natürlich erweisen sich die meisten spätmodernen Problemlagen der Welt als Probleme, auf die man nicht mit simplen Planungsverfahren reagieren kann, denn sie nehmen an jedem Ort unterschiedliche Gestalt an.
Am Ende ist also die Covidpandemie vor allem ein relationales Problemgewebe, das sich, wie jedes andere Makroproblem nicht klar fassen lässt, weil der Gesamtzusammenhang von Wirklichkeit eher den Charakter einer netzwerkartigen, lebendigen und dynamisch reagierenden Struktur aufweist.
Das lässt sich am Beispiel der Covid-Krise, der Klimakrise oder wie in der fiktiven Komödie „Don’t look up“ zeigen. Allen diesen Problemen, ob nun real oder fiktiv, ist gemein, dass sie als Faktum alle gesellschaftlichen Bereiche betreffen, aber in diesen Bereichen völlig unterschiedliche Problemlagen auslösen. Die Covid-Pandemie ist nicht nur ein biologisches Phänomen und auch nicht nur ein medizinisches Problem. Sondern auch ein Problem, das politische Entscheidungen erfordert unter der Bedingung unvollständiger Erkenntnisse, für die die Wissenschaft – und zwar nicht nur als Medizin – zuständig ist, denn in diesem Funktionsbereich der Gesellschaft[1] werden nun einmal Erkenntnisse hergestellt und überprüft. Gleichzeitig ist sie natürlich auch ein ökonomisches Problem mit Logistikproblem, das die ökonomischen Akteure, seien es nun Menschen oder Institutionen, je nach Positionierung und Sparte unterschiedlich trifft. Und sie ist ein Problem mit rechtlichen Folgen und Problemfällen. Sie trifft Männer und Frauen unterschiedlich, sie trifft den globalen Norden anders als den globalen Süden. Und schlussendlich trifft sie auch jeden in seinen Verfasstheiten, individuellen psychischen und physischen Ressourcen unterschiedlich. Die Existenz des Virus in der Umwelt des Sozialen ist dabei nicht einmal das eigentliche Problem, sondern der Umstand, dass es den Weg in den menschlichen Körper gefunden hat und von dort strukturelle Kopplungseffekte einsetzen. Am Ende ist also die Covidpandemie vor allem ein relationales Problemgewebe, das sich, wie jedes andere Makroproblem nicht klar fassen lässt, weil der Gesamtzusammenhang von Wirklichkeit eher den Charakter einer netzwerkartigen, lebendigen und dynamisch reagierenden Struktur aufweist. Jedes Problem der Gegenwart ist somit ein wicked – ein vertracktes Problem im Sinne des Designwissenschaftlers Horst Rittel.[2] Dies ist keine neue Erkenntnis, denn die Welt weist nicht erst seit gestern eine relationale Struktur auf, in der sich permanent Überlagerungseffekte herausbilden, Kollisionen ereignen, Muster herausbilden und auflösen und Steuerungsmaßnahmen verpuffen. Nur die Erkenntnis, dass die Einheit der Welt immer schon verloren ist und damit auch die Einsicht, dass alle Steuerungsversuche neben den mehr oder weniger gewünschten, unendlich viele weitere Zustände erzeugen, ist jüngeren Datums und wird uns in der Kakophonie der digitalen Kommunikation vorführt.
Diese Diagnose hört sich fataler an als sie eigentlich ist (…)
Diese Pluralität gilt es nun auszuhalten und auch mit dem Umstand zurande zu kommen, dass das Projekt der klassischen Aufklärung auch deswegen gelungen ist, weil sich nun jeder als kritisch-rational aufgeklärtes und damit zu öffentlicher Positionierung berufenes Subjekt versteht. Mit der Konsequenz, dass alte Einteilungen, die überlaufende Sinnproduktionen begrenzt haben, wie etwa Laie und Experte, gleich mit aufgelöst werden. Das Ergebnis lässt sich nun in den digitalen Räumen beobachten, in den nicht nur jeder zum Bundestrainer, zum Virologen, Rechtsexperten oder politischen Kabarettist wird, sondern sich Pseudofunktionsbereiche bilden, die sich zunehmend institutionalisieren, eigene Problemdefinitionen und Lösungsvorschläge produzieren, auf Selbsterhalt drängen und die interne Komplexität von Gesellschaft erheblich steigern. Schlussendlich bildet sich auf diese Weise ein Multiversum aus Realitätsausschnitten ohne vollständige Privilegien oder Handlungshoheit und das bedeutet leider auch, auf die Frage, wie sich soziale Realitäten und Prozesse synchronisieren lassen gibt es nur eine Antwort: gar nicht.[3] Diese Diagnose hört sich fataler an als sie eigentlich ist, denn schließlich gewinnt das Soziale seine Stabilität aus selbsterzeugter Unruhe, Sinnüberschüssen und Krisen und zwar entlang von Teillösungen und Versuchen, die sich dann in evolutionären Prozessen bewähren oder nicht. Neben der kognitiven Reizüberflutung lässt mich dies dann doch recht zuverlässig Schlaf finden.
Read More:
Luhmann, Niklas Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd.1&2, Suhrkamp, Frankfurt am Main.
Nassehi, Armin (2021); Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft, Verlag C.H.Beck, München.
Rittel, Horst & Webber, Melvin M. (1973); Dilemmas in einer allgemeinen Theorie der Planung, In: Reuter, Wolf D. & Jonas, Wolfgang (2013); Dilemmas in einer allgemeinen Theorie der Planung S.S. 20-38, Birkhäuser Verlag, Basel.
[1] Zur funktionalen Differenzierung siehe: Luhmann, Niklas Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd.1 & 2.
[2] Vgl. Rittel, Horst & Webber, Melvin M. (1973); Dilemmas in einer allgemeinen Theorie der Planung, In: Reuter, Wolf D. & Jonas, Wolfgang (2013); Thinking Design. Transdisziplinäre Konzepte für Planer und Entwerfer, S.20-38.
[3] Nassehi, Armin (2021); Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft
Text: Sandra Groll
Illustration: Oskar Nehry