Askese und Krawall – letzte Formen der Authentizität

 

Während Greta sich auf ihren asketischen Weg über den Atlantik gemacht hat, beschäftigt sich Donald weiterhin mit den üblichen Provokationen. Beide können sich dabei immenser medialer Aufmerksamkeit sicher sein. Einer Aufmerksamkeit, in der deutlich wird, dass sowohl die demonstrativen Verzichtshandlungen Gretas wie auch die Krawall- und Konfliktgesten Donalds, anscheinend wahrnehmbare Unterschiede machen, die Unterschiede machen. Beide Formen – die Askese, als Selbstdisziplinierung und der Krawall, als ungeordnete Störung – scheinen sich dabei zwar zunächst konträr gegenüberzustehen, dennoch sind beide Ausdruck einer grundlegenden Erschütterung eines für die moderne Gesellschaft zentralen Arrangements: der Authentizität. Dabei sind es vor allem die überall beobachtbaren, überaus emotionalen Reaktionen, die auf eine starke Irritation durch diese Formen von Authentizität hinweisen. Das ist bemerkenswert, denn hier wird die Paradoxie des modernen Imperativs ‚Sei du selbst‘ sichtbar, bei dem stets auch die unausgesprochene Aufforderung mitklang ‚aber bitte nicht so sehr, dass es stört‘. Sowohl ‚Greta‘ wie auch ‚Donald‘ – die jetzt hier in Anführungszeichen stehen, weil es nicht um Personen, sondern um gesellschaftliche Phänomene geht – bilden, unabhängig von den inhaltlichen Themen, für die sie stehen, auch deshalb Erregungsknoten im zeitgenössischen Kommunikations- und Erwartungsrauschen, weil sie Authentizität bereits nachmodern vollziehen. Sie stechen schon allein deswegen heraus, weil hier das übliche post-post-moderne und ästhetisch angetriebene Spiel mit zahmen Authentizitätsproduktionen, wie wir es aus Werbung, Kunst und Design kennen, durch etwas anderes ersetzt werden zu Ende gespielt wird. Es geht nicht mehr um eine Echtheit, die sich produktiv integriert, sondern die sich entlang der durch sie ausgelösten Irritationen erhält. Damit greifen beide Formen Authentizitätserwartungen auf, die eigentlich längst nicht mehr einlösbar sind, weil man sich daran gewöhnt hat, dass ‚Echtheit‘ nicht nur verdächtig, sondern auch hochgradig artifizielle und ästhetisierte Angelegenheiten sind, für die Kunst, Kultur und Werbung die entsprechenden Formen bereitstellen. Genau diese Befriedigung der Sehnsucht des modernen Menschen nach dem Echten und Einzigartigen durch ästhetische und hochgradig artifizielle Formen, führt in der ästhetischen Ökonomie des 20. Jahrhunderts dazu, dass man sich in einer Weise an sie gewöhnt, die dafür sorgt, dass sich diese Formen grundlegend verdächtig machen und mündet in der Gegenwart anscheinend darin, dass für Authentizitätskommunikationen nur noch die Ausweichstrategien Askese oder Krawall bereitstehen, die beide in einem gewissen Maße ein dissoziales Verhalten erfordern und auf radikale Simplifizierung angewiesen sind. Authentisch sind nun all jene Entitäten, die sich nicht nur durch eine positive Übereinstimmung mit sich selbst und entsprechenden Erwartungen, sondern vor allem durch ihr Störungs- und Widerspruchspotential erhalten, das sie in Konfrontation mit der Pluralität von Perspektiven und Meinungen erzeugen.

Während sich die zahme, vergesellschaftete Authentizität der Moderne dadurch auszeichnete, dass man bereit ist Kompromisse einzugehen, indem zum Beispiel zwischen den Anforderungen der Authentizität einer Funktionsrolle, etwa einem Präsidialamt, und individueller Authentizität unterschieden wird, zeigen die neuen Formen eine deutliche Tendenz, die durchgehaltene Abweichung zu betonen. Damit kehrt sich die gesellschaftliche Funktion von Authentizität um. Sie garantiert nicht mehr die Ordnung, sondern integriert Störung. Dazu muss man jetzt natürlich ein wenig ausholen und rekonstruieren, dass Authentizität in der modernen Gesellschaft einen unverzichtbaren Eigenwert bildet, der eine Ordnungsfunktion übernahm und am Übergang zu einer digitalen, nächsten Gesellschaft genau diese Funktion nicht mehr einwandfrei erfüllt werden kann.

Bereits für die klassische moderne Gesellschaft galt für Individuen und andere soziale Akteur*innen: Man möge doch bitteschön in seinem Auftritt, Verhalten, sich selbst und anderen Gegenüber authentisch sein. Erst auf dieser gesellschaftlichen Entwicklungsstufe setzt sich das Konzept des freien Individuums durch, dessen Entwicklungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten offen sind und das sich dem gemäß zur Entfaltung aufgefordert sieht. Parallel dazu stellen sich allerdings eine Reihe von Unbestimmtheiten und Unsicherheiten ein, die Lösungsstrategien erfordern, denn man muss, damit man in die Interaktion miteinander kommt, ja nun einmal Erwartungen aneinander organisieren und das Risiko einschränken, von sich selbst oder dem anderen enttäuscht zu werden. Die implizite Aufforderung sich möglichst authentisch zu verhalten, damit die eigenen Wertvorstellungen und Maßstäbe zu kommunizieren, ist da recht hilfereich, denn nun kann man zumindest unterstellen, dass das Gegenüber nicht völlig beliebig agiert und Böses im Schilde führt, sondern gemäß der eigenen Werte handelt und dies so oder ähnlich auch in Zukunft tun wird. Die Aufforderung, man möge doch bitteschön in seinem Auftritt und Verhalten authentisch sein sorgt also dafür, dass sich eine Identität zeitlich, sozial, sach- und wertbezogen stabilisiert, und dass man genau dies erwarten kann. Die implizite Erwartung, man möge doch bitteschön möglichst authentisch sein und entsprechende Verhaltensweisen an den Tag legen, schwingt von nun in allen Interaktionen mit. Ist Ausdruck eines sich wiederholenden Grundmusters im gesellschaftlichen Alltag der modernen Gesellschaft und orchestriert dabei nicht nur mögliche Interaktionsformen, sondern auch emotionale Erregungszustände. Egal ob diese Authentizitätserwartungen an Personen, Organisationen, Rollen, Kommunikationen, Dinge oder Dienstleistungen gestellt werden, es existiert eine unausgesprochene Aufforderung zu einem authentischen, also zu einem möglichst konsistenten und wertorientierten Verhalten, das nicht nur bereit ist, sich gegen äußere Widerstände durchzuhalten, sondern sich dem anderen transparent macht, darin verlässlich erscheint und überzeugt.

Authentisch ist nur dasjenige, das als Original gelten kann, seine Echtheit beweist und in diesen Qualitäten überzeugt. Damit ist schon einmal klar: Authentizität muss sich wahrnehmbar machen, damit die Unterscheidung zu bloßen Kopien gelingt. Genau diese wahrnehmbare Unterscheidbarkeit ist in der Gegenwart anscheinend nur noch über Störungen

oder verschärfte Autonomie möglich, die in einem asketischen Durchhalten zum Ausdruck kommen. Andere Formen, etwa eine wahrnehmbare individuell-selektive Verweisungstiefe oder ästhetische Glaubwürdigkeitssteigerungen sind nicht nur strategisch für eine ästhetische Ökonomie ausgebeutet, sie verlieren auch ihre Überzeugungs- und Integrationskraft. Damit müssen andere Formen an ihre Stelle treten. Schließlich konnte seit der Entdeckung der Originalität im Verlauf der Renaissance und dem langsamen Aufstieg des Authentischen zu einem unverzichtbaren Eigenwert der modernen Gesellschaft, auf den performativen Einsatz und Produktion des Echten und Originären schon allein deshalb nicht verzichtet werden, weil unterstellte Authentizität Komplexe soweit vereinfacht, dass sie handhabbar werden. Wenn man nämlich davon ausgehen kann, dass ein Gegenüber dem Imperativ ‚sei authentisch‘ Folge leistet, also als Original handelt, dann muss man sich um potentiell gefährliche Endloshorizonte diese Handlung, wie Täuschungsabsichten und anderen Unbestimmten, nicht kümmern. Authentische Formen von Kommunikation und Handlung erzeugen Vertrauen. Vertrauen erleichtert den Vollzug des nächsten Schritts. Wahrgenommene Authentizität bedeutet dann, dass man es mit keiner Fälschung, Kopie oder Täuschung zu tun hat, sondern eben mit einem Original, dessen Enttäuschungswahrscheinlichkeit geringer liegt. Zudem sichert Authentizität Aufmerksamkeit, indem sich in der wahrnehmbaren Echtheit einer Sache auch ihre herausragende Einzigartigkeit ausdrückt, die sie vor allen anderen Angeboten auszeichnet.

Diesen instrumentellen Wert von Authentizitätskommunikationen kennen Werber*innen im Übrigen sehr genau. Neben der Kunst und dem Design bildet nämlich auch die Werbung einen gesellschaftlichen Bereich, in dem es ganz erheblich darum geht, Vorlagen für Authentizitätskommunikation zu kreieren. Das hört sich zunächst etwas widersinnig an, schließlich gibt es kaum einen gesellschaftlichen Bereich, dem man im Allgemeinen eine größere Ferne zu Fragen der Authentizität unterstellt. Allerdings sind Werber*innen nun einmal auch Expert*innen im Umgang mit der Einheit der Differenz von Schein und Sein. Sie verwalten dabei quasi eine grundlegende Paradoxie von Authentizität, nämlich dass Authentizität eine höchst artifizielle Angelegenheit ist. Ihre Beobachtungsvorlagen sorgen bis in die Gegenwart dafür, dass Authentizität als Imperativ überhaupt funktioniert. Denn wenn wir alle wirkliche Originale und darin authentisch sind, dass wir originär und einzigartig handeln, dann bekommt man es im Alltag mit einem erheblichen Kontingenzproblem zu tun. Da man sich dann auf nichts verlassen kann, mit der Konsequenz, dass man es mit einer Unbestimmtheit zu tun bekommt, die soziale Interaktion und damit Gesellschaft kollidieren lässt. Werber*innen wissen dies im Übrigen sehr gut, denn ihr Tagesgeschäft besteht in nichts anderem als in der Entwicklung von Vorlagen für Authentizitätskommunikationen, die das Kunststück fertigbringen, einerseits Authentizitätsbedürfnissen zu entsprechen, dies aber in Form mit Blick auf mögliche Kopien zu tun.

Allerdings ist auch bei ihnen die Krise der Authentizität längst angekommen, denn die seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts gebräuchlichen eher zahmen, symbolisch-ästhetischen Strategien verlieren deutlich ihre Überzeugungskraft. Ursächlich hierfür ist, dass die implizit überall anzutreffende Forderung ‚authentisch, bitte!‘ zwingend eine wahrnehmbare Unterscheidbarkeit zwischen Echtheit und Kopie erfordert und so grundlegend zu Handlungsmaxime wurde, dass man sie aller Orten antrifft. Dies wird jedoch in dem Augenblick problematisch, wenn unter den Bedingungen einer ästhetischen Ökonomie, ästhetische Formen von Authentizitätskommunikation ubiquitär werden und noch das kleinste Sinn- oder Konsumangebot seine originäre Einzigartigkeit in die Welt hinausschreit. Gleiches gilt für all die ‚Human-Centred‘ orientierten Designprojekte, die nun aber wirklich (wirklich!) den authentischen Bedürfnissen des Menschen entsprechen und dabei, das ist eine unausweichliche Ironie, eben jene wirklichen Bedürfnisse als Begehrnisse und Sinnversprechen überhaupt erst erzeugen.

Gerade die unterschwellige Verbindung von Echtheit, Originalität und Einzigartigkeit im Authentizitätsbegriff jedoch führt in ein Paradox, das sich im Verlauf der Moderne sowohl produktiv als auch destruktiv entfaltet: Im Streben nach Authentizität ist man nur eine Kopie und angewiesen auf höchst artifizielle und standardisierte Angebote. Produktiv ist dieses Paradox in der immensen Steigerung möglicher Lebensentwürfe und Lebensrealitäten, destruktiv überall dort, wo mit diesen Lebensentwürfen in unübersetzbaren Meinungs- und Realitätsausschnitten münden. Produktiv ist das Authentische auch überall dort, wo mit Hinweis auf ‚Echtheit‘ Abweichungen und Widerstände formuliert werden und Themen in den gesellschaftlichen Diskurs eingeführt werden, mit denen man sich dann gesellschaftlich auseinandersetzen muss. Problematisch wird es dort, wo der Hinweis auf die eigene Originalität als Exit-Strategie herhalten muss, um sich an bestimmten Diskursen gerade nicht zu beteiligen. Die Frage wird jedoch sein, ob man sich von den modernen Authentizitätserwartungen nicht besser lösen sollte, denn der strukturelle Rahmen, den die nächste Gesellschaft vorgibt, wird ein anderer sein.

Und so scheint es ganz so, als ob sich langsam, aber sicher die Einsicht durchsetzt, dass es mit ‚Echtheit‘ so eine Sache ist: Sie ist eine artifizielle Angelegenheit, die zur Nachahmung auffordert und darin ihr eigenes Versprechen selbst unterläuft. Und auch ‚Greta‘ und ‚Donald‘ ändern an diesem Umstand erst einmal wenig, denn die Struktur dieser Phänomene wirkt zunächst eher als eine Richtungskorrektur auf weniger ausgetretenen Akzentuierungen der Authentizitätsproduktion. So verweisen etwa asketischen Praktiken auf die Counter Culture der 1960er Jahre, das provozierende Krawallgebaren hingegen auf den Punk der späten 1970er und 1980er Jahre. Die werden als Gesten wahrgenommen, die man bereits kennt und zu denen man sich postmodern Verhalten konnte. Allerdings finden sie nun unter verschärften Bedingungen in einem dramatischeren Setting statt und das führt zu einer Form, in der sich Authentizität darin beweist, dass sie unter allen Umständen durchhält, Komplexität ignoriert, auf die eignen Simplifikationen vertraut und ihre Überzeugungskraft weniger durch eine Kongruenz des Handelns – die unter den Bedingungen der Gegenwart, in der jede Entität eine fragmentarische Existenzweise führt, eh kaum durchhaltbar ist – sondern durch die erzeugte Reibungen gewinnt. Am Ende könnte ein veränderter Imperativ stehen, in dem Aufforderung ‚Sei Du selbst‘, dessen sozialverträglicher Nebensatz ‚aber bitte nicht so sehr, dass es stört‘ fallengelassen wird.

CREDITS

Text: sandra Groll #s_groll – Illustrationen: Oskar Nehry #oskkko