„All das zu verlieren“

Leïla Slimani (Autorenfoto: https://www.randomhouse.de/Autor/Leila-Slimani/p617517.rhd)

Übersetzt von Amelie Thoma

217 Seiten

Im Original erschienen 2015 bei Éditions Gallimard, Paris

Die hier zitierte Ausgabe erschien im Februar 2021 bei btb, München

Auf der Klappenbroschur klebt ein Button mit “Weltbestseller”, inklusive eines Sterns. Eine Auszeichnung also, in diesem Fall vom Verlag selbst, nicht von einer unabhängigen Institution.

Der Button ist mir heute erst aufgefallen. Und nervt mich. Ich habe in letzter Zeit das Gefühl Bücher zu lesen, die hervorragende Kritiken erhalten, in den Feuilletons der großen Zeitungen und auf den einschlägigen Portalen – in diesem Fall auch sehr deutlich vom Verlag selbst – gefeiert werden und Preise gewinnen. Bücher, auf die ich mich freue und die mir dann sehr auf die Nerven gehen. So viele düstere, frustrierte, egoistische, psychotische, gewalttätige oder gewaltbedürftige Charaktere. Meine Güte! Was ist das denn bloß? Warum haben nicht mal wieder helle, fröhliche, lustige, schlaue, erhebende Geschichten(-Erzähler) Erfolg?

Ich mag aber nicht aussetzen bei CYTE und vielleicht fühlt sich ja jemand von Folgendem angesprochen.

Adèle lebt mit Mann Richard (Arzt) und Sohn Lucien in Paris. Sie geht täglich in die Redaktion einer Zeitung. Sie arbeitet als Journalistin. Adèle hat Sex. Viel Sex. Mit fremden Männern. Meistens mit fremden Männern. Selten aber manchmal auch mehr als ein Mal mit dem gleichen. Manchmal auch mit mehreren Fremden gleichzeitig. In ihren Träumen ist sie das Objekt inmitten einer Meute von Männern, die mit ihr machen, wozu sie Lust haben. Wo sie Sex hat ist nicht wichtig. Es muss weder gemütlich, noch schön, noch sauber sein. Warum auch? Der Sex ist fast nebensächlich. Sie sucht den Schmerz. Körperlichen Schmerz, sie will hart genommen werden, um den Kummer und die Angst zu vertreiben. Woher Kummer und Angst kommen? Unclear. Kindheit. Aber weil es mehr um Schmerz als um Sex geht, gibt es kaum explizit beschriebene Sexszenen (dieser Hinweis für alle, die bis hierhin die Erwartung hegen, einen Sexroman vorzufinden).

Zu Beginn scheint es, als sei sie schlicht Nymphomanin mit Hang zum Masochismus.

Mit ihrem Mann hat Adèle keinen Sex. Das liegt an beiden. Lieben sie sich? Da wird einem wieder bewusst, dass Liebe viele Definitionen hat. Und, dass das nicht die Frage ist, die sich hier stellt. ”Sie haben sich nie besonders zueinander hingezogen gefühlt oder gar Zärtlichkeit füreinander empfunden und in gewisser Weise beruhigt sie die fehlende körperliche Nähe. Als würde sie beweisen, dass ihre Partnerschaft über solch profanen leiblichen Bedürfnissen steht.”

Sie geht fremd, geht viel aus, trinkt, raucht, nimmt Drogen. Sie liebt ihren kleinen Sohn, irgendwo da im Knäuel ihrer Gefühle. Sie kümmert sich, findet aber keine tiefe Bindung zu ihm, empfindet ihn als “Last, als Verpflichtung, an die sie sich einfach nicht gewöhnen kann.” Dabei dachte sie, dass Schwangerschaft, Mutterschaft, das Kind sie endlich heilen würden. Dass das der “Ausweg aus ihrem Überdruss” sei, “die Lösung, um ihr die ewige Flucht nach vorne endgültig abzuschneiden”. Ist es nicht.

Richard will aufs Land ziehen. Möchte ein zweites Kind, eine richtige Familie. Er hat das Angebot einer Klinik, das Haus mit Garten – perfekt für Lucien – im nächsten Dorf ist schon gefunden, wartet nur auf die Unterschrift von Richard. Seine Eltern wohnen nicht weit entfernt, sie können jederzeit aushelfen. Dort könne auch Adèle endlich zur Ruhe kommen. Das täte ihnen allen gut. Adèle wird übel, sobald Richard davon spricht.

“Ich habe ihn geheiratet, weil er mich gefragt hat. Er war der Erste und bisher der Einzige. Er hatte mir etwas zu bieten. Und außerdem war meine Mutter so glücklich. Ein Arzt, stell Dir vor!”

Richard bekommt nichts mit. Später heißt es, er bemerke die nun fehlenden Verletzungen, die blauen Flecken, die zuvor immer da waren, weil Adèle so ungeschickt war ständig gegen einen Tisch, ein Treppengeländer zu stoßen.

Aber an diesem Punkt der Geschichte scheint er noch ahnungslos. Und Adèle versucht auch immer wieder “aufzuhören”. Schämt sich, will sich bessern, nimmt sich vor, ihr Leben auszumisten, reinen Tisch zu machen. Bis zu dem Moment, in dem sie einfach nicht anders kann, es sie überkommt, weil es zu wild, zu fordernd wird und sie sich ergeben muss. Bis sie sich Männer nach Hause holt – Richard hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus – und den einen auffordert “sein spitzes knochiges Knie auf ihre Scheide krachen (zu) lassen.” Sie sucht die Gewalt, den Schmerz bis zur Ohnmacht.

Und dann scheint es so, als wolle sie entdeckt werden, als wolle sie, dass Richard sie da rausholt. Sie schläft mit einem Kollegen ihres Mannes. Mehrfach. Es ist eine andauernde Affäre. Aber mehr, weil er es so will, als dass sie sich nun mit ihm verbundener als mit den anderen zuvor fühlen würde.

Die Frau des Kollegen entdeckt das Fremdgehen ihres Mannes und geht zu Richard, erzählt es ihm. Er stellt Adèle zur Rede. Sie wehrt sich nicht, versucht nicht zu leugnen, scheint erleichtert, dass das Geheimnis gelüftet ist, sie sich der Strafe hingeben kann. “Ich werde tun, was Du willst.“ Ihre Passivität treibt ihn in Rage. Aber er hält an ihr fest. Er will sie heilen, die Süchtige. Er ist Arzt, er heilt.

Sie ziehen aufs Land, Adèle geht zum Therapeuten, spielt mit ihrem Sohn im Garten. Sie hat kein eigenes Geld. Richard bewacht sie. Fährt sie überall selbst hin. Bis er glaubt, sie hat es überwunden, er ihr wieder traut und sie alleine zur Beerdigung ihres Vaters fahren lässt. Adèle kommt nicht zurück.

Nachtrag: Ich scheine endlich ein Buch gefunden zu haben, dass meinem Wunsch nach Helligkeit, Fröhlichkeit, Humor und Intellekt entspricht: MÄDCHEN, FRAU ETC. von Bernardine Evaristo, 2021, Tropen (Booker Prize 2019). Bin erst im zweiten Drittel, aber bis hierhin ist es wirklich ein Genuss. Gut geschrieben, tolle Charaktere, schlau, anregend, weiterbildend und ich habe schon schallend gelacht. Und das mit dieser lähmenden Pandemie, bei der einem das Lachen manchmal zu vergehen droht. Have FUN!

Text: Henrike Heick