Ach, Arkadien – ein spätmoderner Problem-Lösungskomplex

Dieser Text entsteht auf einer Terrasse in Italien, von oben die Weinreben, im Blick nach vorne die Rosmarinhecke, dahinter die Olivenbäume und dann das Mittelmeer, im Halbschatten, leichter Wind, unter Beobachtung der Mauereidechsen und begleitet von angenehmen hundert-zwanzig Dezibel der Zikaden. Genauso habe ich mir das vorgestellt mit dem post- oder wahrscheinlich eher zwischenpandemischen Urlaub. Steinern, natürlich, authentisch und bedingungslos instagrammable. Die natürliche Umgebung macht mir ein komplexes, aber nicht überforderndes Wahrnehmungsangebot und entspricht so ganz meinen Erwartungen. Das alte Bauernhaus im Olivenhain, ein authentisches Refugium bestens angebunden an steinige Wanderwege. Also auch hier Erwartungssicherheit in Sachen Authentizität und Individualität. Nice! Das bedeutet Entspannung, tolle Bilder und Sinnlichkeit und damit Basiszutaten für ein

Narrativ, von dem ich bereits weiß, dass es sich gut erzählen lässt – mir selbst und anderen. Abgerundet wird der Komplex von vielen kleinen und bekannten Handlungsabläufen, die bereits bekannt sind, da medial vermitteltet oder in vorangegangenen Urlauben eingeübt wurden. In einer Stunde wird es Zeit für den ersten Sprizz des Tages! Mit ganzen Sinnen genießen durch Routinen und entlang von wiederkehrenden Mustern, die die Sache erwartungssicher machen und dennoch das Gefühl vermitteln, etwas komplett Außergewöhnliches zu tun und mit entsprechenden Bildern und Geschichten anderen davon erzählen zu können, die eigentlich das Gleiche tun. Wenn es ganz schlecht läuft, sogar am selben Ort. Paradoxie, at it’s best. Denn nichts entwertet Urlaubsorte mehr als andere Tourist*innen, die auf die gleichen authentischen Erlebnisse aus sind und Urlaubsorte, die sich auf die Bereitstellung solcher Erlebnisse ausgerichtet haben. Wir wollen singuläre, einzigartige und authentische Erlebnisse, sind aber darauf angewiesen Formen zu wählen, die etabliert und sozial anerkannt sind. Dies geht nur mit Mustern und zugeschnittenen Formaten die Orientierung bieten. Prinzipiell könnte ja alles Mögliche zu einem Erlebnis oder gar Urlaub erklärt werden. Interessant jedoch ist, dass immer nur ganz bestimmte Formen und Zuschnitte sinnhaft als Urlaubserlebnisse durchgehen und das macht es übrigens auch schwer, der spätmodernen Reiseaktivität ökologisch sinnvolle Alternativen anzubieten. Van-Life bietet jedenfalls ausdrücklich keine ökologische Alternative, sondern höchstens eine weitere Steigerung vermeintlicher Individualität und noch mehr Konsum knapper Ressourcen. Gleiches gilt für Biwakieren im nächstgelegenen Wald. Beide unterliegen den gleichen Dynamiken, erfordern jede Menge Konsumobjekte, die eigens für diese Aktivitäten hergestellt werden und produzieren gleichzeitig die entsprechenden Muster, die dann einen Massentrend bedingen.

Grundsätzlich ist dies nicht einmal ungewöhnlich, denn Urlaubreisen sind gleichzeitig entscheidungsabhängige Angelegenheiten und damit eine Auswahl aus unendlich vielen unterschiedlichen Möglichkeiten, deren gemeinsames Merkmal darin besteht, dass jede Entscheidung erst einmal riskant ist, da sie den Ausschluss aller anderen Möglichkeiten nach sich zieht. Wer nach Italien reist, reist nicht nach Malle und entscheidet sich auch gegen die Möglichkeit zum Reiseverzicht. Dass gerade letzter eventuell angebracht wäre, lässt sich sehr schön am Beispiel meiner Urlaubsreise beobachten, deren erster Teil unter dem Zeichen spätmoderner, bildungsbürgerlicher und individualtouristischer Italienromantik steht und deren zweiter Teil sich am voralpinen Sehnsuchtsort der Münchner Schickeria, dem Tegernsee, abspielt. Während ich also für den ersten Teil dieses Textes fröhlich meine Sehnsucht nach Arkadien befriedige – ja, auch ich in Arkadien! Goethe und Schiller lassen grüßen! – und darin wunderbar an bildungsbürgerliche Ideale anschließe, brennt das reale Arkadien ebenso wie der südliche Teil Italiens lichterloh, sind massive Flutschäden im Ahrtal zu verzeichnen, wird gleichzeitig der Schritt von einer pandemischen zur endemischen Lage vollzogen, während gleichzeitig der Weltklimarat mit einem verheerenden Bericht zur Erderwärmung aufwartet. Dem gegenüber steht die reale und individuelle Situation am Urlaubsort, von Feuer oder problematischen Klimaphänomenen verschont, das Haus im Olivenhain mit Blick aufs Meer und unterhalb ein touristisch eher mäßig besuchter Ort mit dem Charme von Cinque Terre, ohne selbst in Cinque Terre zu liegen. Und auch hier zeigt sich ein Problem: die Vernetztheit der Welt lässt sich nur schwer denken und ihre Relationen kaum sinnvoll gestalten. Sprich: Das was Urlaubsreisen psychisch, emotional, sozial, ökonomisch und teilweise auch politisch leisten, lässt sich aufgrund dieser Multidimensionalität kaum anständig versprachlichen und erst recht nicht, wenn gleichzeitig die multidimensionalen Probleme mitberücksichtigt werden sollen, die durch Urlaubsreisen erzeugt werden. Urlaub sind nicht nur komplexe Angelegenheiten, aus Handlungen, Sinn, Wünschen, psychischen, sozialen und kulturellen Konstellationen, ökologischen und wirtschaftlichen Aspekten. Sie sind im Sinne Horst Rittels vertrackte Probleme, die sich aufgrund ihrer Multidimensionalität und deren Eigendynamik bereits der anständigen Beschreibung entziehen. Darüber hinaus sind sie vor allem höchst artifizielle Angelegenheiten, die erst in der modernen Gesellschaft im großen Stile möglich und in der spät modernen Gesellschaft unverzichtbar werden.

Da sie Formen sind, die erst in einem bestimmten soziohistorischen Setting möglich, dann aber schnell systemisch auf mehrfache Weise notwendig werden, lässt sich nach der Bedingung ihrer Möglichkeit fragen. Allerdings und dies fehlt mir in der gegenwärtigen Diskussion, sollte diese Frage nicht mit einem einfachen Verweis auf spätmoderne Dekadenz und Konsumfreude der Gewinner der Globalisierungsprozesse der letzten Jahrhunderte beantworten. Das ist schlichtweg zu simpel und öffnet außer einem leicht protestantisch angehauchten und moralinsauren Aufruf zum Verzicht auch keinen Weg zu Alternativen und das ist genau das Problem. Denn erstens funktioniert der Aufruf zu Erlebnisverzichten in einer säkularisierten Gesellschaft, deren Mitglieder dem impliziten Imperativ folgen, so viele positive Erlebnisse wie möglich in der eigenen Lebenszeit und im Diesseits zu realisieren nicht mehr. Und zweitens sind Urlaube nicht einfache Dinge oder Ereignisse, sondern eben komplexe Angelegenheiten, die auf mehrfache Weise Funktionen erfüllen. Sie bieten den leiblich spätmoderner Leistungssubjekte des globalen Nordens Entlastungsfunktionen, sichern als wirtschaftliche Faktoren das ökonomische Überleben ganzer Regionen, dienen psychologisch einer Selbst- und Fremdversicherung und als Zeichen dafür, dass das eigene Leben nicht nur gelebt, sondern auch erlebt wird, ermöglichen kulturellen Austausch oder erhalten gar natürliche Habitate. Gleichzeitig sind sie natürliche ökologische Probleme, machen ganze Regionen von einem Wirtschaftszweig abhängig, spalten das soziale Band, sind Neidfaktoren und lenken vom politischen Weltgeschehen ab.

Urlaubsreisen sind also Formen, die sich nicht in einem, sondern gleich in mehreren Medien einschreiben und realisieren. Dirk Baecker hat den Hinweis Fritz Heiders, das Dinge nichts anderes als feste Kopplungen in Medien sind einmal am Beispiel der Wanderung, die nichts anderes sei als eine Form im Medium von Wegen, in eine recht sinnige Form gebracht, dabei aber vom Medium im Singular gesprochen. Bei den meisten Entitäten verhält es sich jedoch ein wenig anders: Sie sind Formen, die sich dadurch bedingen, dass sie gleich in mehreren Medien, vielleicht sogar in unendlich vielen Medien als Zustände der Welt eingeschrieben sind. Das lässt sich sehr schön am Beispiel der Italienreise zeigen. Diese führt nämlich eine schizophrene Mehrfachexistenz in unterschiedlichen Sinnprovinzen und genau das ist vielleicht ihr Problem, beziehungsweise unser Problem in einer globalisierten Welt, die leidet. Damit ist die Urlaubsreise jedoch nicht allein, sondern in guter Gesellschaft mit den meisten Dingen dieser Welt. Sie existieren gleichzeitig als Waren, Dienstleistung und Wirtschaftsfaktor, als ökologische Probleme, spätmoderne Entlastungsprojekte erschöpfter Psychen, als soziale Werte oder Prestigegewinne, als Erlebniswünsche, als immanenter Ersatz eines transzendenten Jenseits, das der Säkularisierung zum Opfer gefallen ist oder als nicht mehr hinterfragtes Must-Have in modernen Biografien. Damit gilt für die meisten Entitäten, dass sie Lösungen (im Plural!) anbieten, während sie gleichzeitig Probleme (im Plural) erzeugen. Auf diese Weise sind sie multidimensionale Problem-Funktions-Zusammenhänge, die sich nicht auf eine Dimension reduzieren lassen, in der dann die jeweiligen Probleme durch eine Maßnahme gelöst werden können. Und damit sind wir schon beim eigentlichen Problem, wie viele andere spätmoderne Phänomene auch verstehen wir Urlaubsreisen als monokausale oder monosubstanzielle Angelegenheiten und argumentieren für und wider eine solche Reise durch das Thematisieren von Einzelaspekten, obwohl sie ihrer Natur nach eher als relationales Gefüge, also als eine Vielheit von singulären Aggregatzuständen und Beziehungen zwischen diesen zu verstehen sind. Mit relationalen Gefüge Umgangsweisen zu entwickeln und ihre Dynamiken zu verstehen, dabei die Paradoxie auszuhalten, dass die Lösungen, die solche Gefüge anbieten gleichzeitig Probleme in anderen Gefügen nach sich ziehen, dürfte eine Aufgabe sein, die sich der Gesellschaft und jedem Einzelnen in Zukunft stellt. Mit den Mitteln des klassischen europäischen Denkens, das Ursache und Wirkung, Probleme und Lösungen, Subjekte und Objekte säuberlich trennt, in Kausalverhältnisse setzt und dabei nur die Einzelaspekte wie Steigerung des Wohlstands durch touristische Angebote oder Lösung des ökologischen Problems durch protestantische Verzichtsübungen im Blick hat, wird man jedoch an dieser Stelle nicht weiterkommen. Denn zu viele unserer ideellen Verortungen, individuellen Verhaltens- und Handlungsroutinen, setzen auf das Nebeneinander von Sinnprovinzen und gleichzeitig drauf, dass die interne Vernetztheit dieser Sinnprovinzen unterschlagen wird.

Was aber dann? Vielleicht sollte man der Vernetztheit der Lösungen und Probleme, der mehrdimensionalen Sinnprovinzen mit Vernetzungskonzepten begegnen, die nicht negieren, dass es so etwas wie eine spätmoderne Erlebnisgesellschaft gibt, dass Urlaube außerhalb der eigenen Region Spaß machen, und dass Tourismus auch zum Erhalt traditioneller Agrarkultur und Habitate beitragen kann und dabei gleichzeitig auch nicht die Problemhöfe von Reisen zu verdrängen. Das würde bedeuten, den Urlaub multidimensionaler auszurichten und berufliche Termine, die sonst eine eigene Reiseaktivität erfordern auf die Anreiseroute zu setzen, Familienbesuche ebenso und vielleicht auszudehnen um sich endlich mal auf Arbeiten konzentrieren zu können, die im beruflichen Alltag den Konzentrationsschwächen zum Opfer fallen. Schließlich sollte remote Work mittlerweile kein Problem mehr sein. Ob so ein Urlaubsdesign eine wirkliche Alternative bietet müsste jedoch gesondert untersucht werden und ist eine Aufgabe für das nächste Jahr, denn nun bin ich mittlerweile am Tegernsee ankommen und kann mich trotz der voralpinen Lieblichkeit auf Grund der leisen, aber deutlich wahrnehmbaren höchst distinktiven Tischgespräche über das Haus auf Sylt oder die viel bessere Zahlungsmoral der Amerikaner im Hinblick auf Berater- und Coachingtätigkeiten an den Tischen neben mir, nicht mehr konzentrieren. Eins sei aber erwähnt: die Grasnarben der Rad- und Wanderwege sind hier in einem Maße gepflegt, die so herrlich an die recht uniforme Art der Bekleidung der Reisenden anschließt. Es drängt sich jedoch die Frage auf, welchem mir noch nicht bekannten Muster man folgen muss, um das Kunststück fertig zu bringen, sich zugleich so schlecht und so teuer anzuziehen. Aber das ist ein Thema für einen anderen Text.

 

 

Text: Sandra Groll

Photo: Rüdiger Schwartz