„Breath – Atem“
James Nestor
Words: Henrike Heick
In meinen letzten zwei Berlin-Jahren, während ich hyperengagiert in einer hippen Start-Up-Content-Bude arbeitete und mich sehenden Auges in einen Burn-out katapultierte, folgte ich einem Freund, der, aus anderen Gründen zwar, aber nicht minder zielstrebig ebenfalls einem Burn-out immer näher rückte, aber zum Glück doch schon erkannt hatte, dass man dagegen etwas tun muss und kann, in einen Atemkurs. Ich tat es eher aus einer Mischung aus Mitgefühl, Höflichkeit und auch etwas Kalkül, er hatte etwas sehr Ansprechendes, der Freund, der hotte.
Ich begab mich einmal wöchentlich in die Räumlichkeiten eines nach kaltem Schweiß und abgeranztem Gummi müffelnden Kampfsportclub, um tiiiief zu atmen, durch die Nase. Durch die Nase ein, durch den Mund aus. Oder rechtes Nasenloch ein, linkes Nasenloch aus und andersherum. Hoch in die Brust. Runter in den Bauch. Nach hinten in den Rücken … Wir saßen wohl immer eine Stunde so da, im Sitzkreis, auf verschwitztem Gummiboden und lauschten den Atem-Anleitungen meines Freundes und dem Atem der anderen. Ein bisschen wie beim Yoga, wo man neidisch ist, wenn die Mattennachbarin die Yogi-Atmung, die Ujjayi-Atmung, so inbrünstig beherrscht, dass man sie sogar in der letzten Reihe noch hört …wie gesagt, neidisch …
Heute kann ich auf jeden Fall sagen, dass ich den Atem-Kurs zu wenig wertgeschätzt habe. Mir war zwar aufgefallen, dass ich etwas entspannter schlief und ich für diese eine Stunde Sitzkreis den Job in die hintersten Windungen meines Bewusstseins schieben konnte, aber das hielt mich letztlich nicht bei der Stange. Auch der hotte Freund nicht. Der Nimbus verflüchtigte sich mit den Atemübungen.
Nun bin ich zurück bei meinem Atem – ganz ohne Burn-Out-Gefahr – und lese wie verrückt das Buch ATEM von James Nestor. Ich bin gar keine Sachbuch-Type und ich kann auch nicht so recht erklären, weshalb mir dieses Thema, dieses Buch ins Auge sprang. Allein das Wort ATEM hat offenbar ausgereicht. Vielleicht, weil der Atem existenziell ist. Vielleicht, weil ich keine 20 mehr bin, mein Körper mir Grenzen aufzeigt und mir die Sorge um seinen Erhalt entsprechend notwendiger erscheint. Vielleicht, weil ich denke, dass uns die Natur alles gegeben hat, um gesund und froh zu sein und wir einfach über die Jahrhunderte hinweg verlernt haben, uns auf uns und unsere Fähigkeiten, unsere Natur zu verlassen. Atmen passiert von selbst. Aber wir können beeinflussen, wo und wie der Atem fließt und erfahren so, was das mit uns macht.
Das Buch hat mich unmittelbar mit der ersten Seite gepackt. Und es wird mich voraussichtlich bis zur letzten Seite tragen. Auch wenn ich gerade erst in der Mitte des Buches bin, möchte ich es dennoch empfehlen, denn es liest sich leicht wie ein Roman – zu Teilen aufwühlend wie ein Krimi. Die populärwissenschaftliche Herangehensweise macht es mir einfach per se (für mich) sehr komplizierte Sachverhalte auf Anhieb zu verstehen … eventuell bin ich als Sachbuchlaie auch sehr schnell zu beeindrucken. Was solls. Es hilft. Ich nähere mich der Welt der Sachbücher. Ich hoffe, wir haben alle etwas davon.
James Nestor ist Amerikaner. Er ist Journalist, er schreibt unter anderem für die New York Times. Und er ist Taucher. Sein Interesse, sich mit dem Atmen zu beschäftigen liegt also näher als meins. Aber nicht jeder Taucher geht derart ins Detail wie James Nestor, vermute ich. Was uns verbindet ist der Grund, sich einer Atemkursgruppe anzuschließen. Bei ihm heißt es „Ich sollte meine versagenden Lungen stärken, mein zerfahrenes Gemüt beruhigen, vielleicht eine neue Perspektive gewinnen.“ Das hört sich wie „sehr nah am Burn-Out“ an, finde ich. Seine Atemkurs-Erfahrung ist zu Beginn etwas skurriler und zum Ende hin viel beeindruckender als meine – er ist einfach der bessere Erzähler. Merke, schon aus diesem Grund lohnt sich das Buch!
Er nennt all jene Experten und Forschenden, mit denen er sich über Jahre hinweg zum Thema Atem austauscht, deren Bücher, Abhandlungen, Essays, Bilder, Videos, Skizzen er konsultiert, Pulmonauten (lat. pulmonis > Lunge). Er begibt sich in die Evolutionsgeschichte unserer Welt, in vorchristliche Zeitalter, springt durch die Jahrtausende und Jahrhunderte und findet überall Nachweise für Interesse und Erkenntnisse zum Atem, zu Atemtechniken, zu Riten und medizinischen Errungenschaften.
Es ist beeindruckend, wie wenig Aufmerksamkeit dem Atem heute in unserem Gesundheitswesen zuteilwird. Zumal wenn man so unaufgeregte Sätze liest wie
„… Wenige dieser Forscher (Anm. d. R. zuvor präzisiert der Autor: „Forscher an den Universitäten Harvard und Stanford“) hatten sich ursprünglich mit Atmung befassen wollen, aber sie stellten fest, dass sie es nicht vermeiden konnten. Sie fanden heraus, dass sich unsere Atemfähigkeit im Laufe der langen menschlichen Evolutionsgeschichte verändert und unsere Atemtechnik sich seit Beginn des Industriezeitalters beträchtlich verschlechtert hat. Sie entdeckten, dass 90 Prozent der Menschen – darunter wahrscheinlich ich, Sie und fast jeder den Sie kennen – falsch atmen und dass dieser Fehler eine lange Liste chronischer Krankheiten entweder verursacht oder verschlimmert.
Immerhin nicht ganz so deprimierend ist, dass einige dieser Forscher auch zeigen konnten, wie viele moderne Krankheiten – Asthma, Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität, Schuppenflechte und andere – gemildert oder sogar überwunden werden können, wenn man nur lernt, anders ein- und auszuatmen.“
Im Laufe des Lesens erfahre ich noch von vielen weiteren ungesunden Zuständen, die mit bewusster, und wenn man so will, richtiger Atmung verhindert oder gelindert werden können. Es ist kein Zauber dabei, keine höhere Kraft, keine Wesen, keine „Zuckerkügelchen“. Hier will niemand etwas verkaufen – ich habe damals je Sitzung fünf Euro für die Miete des Kampfsportraumes beigetragen und jetzt 24 Euro für das Buch ausgegeben … eventuell gebe ich noch etwas mehr Geld für weitere Bücher zu diesem Thema aus oder schaue einfach Youtube-Videos an – jeder Mensch atmet und wie man es richtig macht, ist nicht so schwer. Ich brauche kein Outfit dafür, kein Equipment, keine Nahrungsergänzungsmittel. Ich habe meine Nase, meine Lunge, meinen Körper und etwas frische Luft findet sich auch. Wobei zu bedenken ist, dass es nicht nur um Sauerstoffzufuhr geht. Der Körper braucht auch ganz dringen Kohlendioxid! Dazu gleich mehr.
Zu Beginn geht es wie gesagt um einen Atemkurs, den Nelson besucht. Er leitet dann über zu seinem ersten Selbstexperiment, dem er sich zusammen mit Anders Olsson aus Stockholm, einem ehemaligen IT-Unternehmer, der inzwischen der angesehenste Atem-Therapeut Skandinaviensist, aussetzt: zehn Tage reine Mund-Atmung. Das bedeutet, Pfropfen in die Nase, Tag und Nacht. Allein die Vorstellung löst bei mir Unwohlsein aus, obwohl ich erst seit zwei Tagen darauf achte, ob ich bitteschön durch die Nase atme, den Mund zu! Als Kind hat man mir immer mal wieder gesagt: Mach den Mund zu, Dein Herz wird kalt. Es hat immer gewirkt. Der Unterkiefer klappte unmittelbar hoch. Bei Nelson und Olsson wird nicht das Herz kalt, zumindest wurde das nicht dokumentiert, aber viele andere nicht angenehme Dinge stellen sich ein.
Mit dem Kapitel „Langsam“ nähern wir uns dem Konzept „weniger führt zu mehr“ und Nelson beschreibt die physiologischen Vorgänge, denen der Atem und damit alle mitgeführten Moleküle und Stoffe auf seinem Weg durch unseren Körper ausgesetzt ist, was wo passiert und warum es sinnvoll ist, zwar langsam aber nicht immer so besonders tiiiief zu atmen. Die schwere, tiefe Atmung entzieht dem Körper Kohlendioxid, das er braucht, um Energie zu erzeugen. Viel hilft nicht immer viel. Im Gegenteil. Und das ach so schadhafte Kohlendioxid, macht im Körper vieles Gute, ganz entgegen seines allgemeinen Rufs. Nach „Langsam“ kommt „Weniger“ und es schließt sich dem Langsam an. Wieder wird das Kohlendioxid erwähnt. Es geht um reduzierte Atmung und wie diese Atemtechnik zum Beispiel Sportler:innen hilft, ihre Leistung zu steigern oder Asthmatiker:innen, ihren Alltag ohne Atemnot und eine dadurch ausgelöste Panik zu bewältigen. Der gesunde Wert des Kohlendioxidspiegels liegt bei 5,5 Prozent. Diesen zu halten ist das Ziel auch bei der Behandlung vieler anderer Befindlichkeiten.
Ich tue mich schwer zu schreiben, dass das richtige Atmen Krankheiten heilen kann. Das schreibt auch James Nestor so nicht, er zitiert verschiedene Wissenschaftler, Mediziner, Forscher, die davon berichten. Aber ich bin schon nach den ersten Seiten des Buches überzeugt, dass es Sinn macht, sich mit seinem Atem zu beschäftigen, ihn zu beobachten, zu regulieren und das ein oder andere Experiment – beispielsweise langsame Nasenatmung beim Sport oder über Nacht ein leichtes Pflaster über den Mund kleben, um nicht unkontrolliert durch den Mund zu atmen – zu wagen.
Neben dem Unterhaltungswert, der in Nestors Schreibstil und seiner Bereitschaft, sich absurden Selbstversuchen auszusetzen, begründet liegt, lernt man wirklich etwas! Ich übertrage eine Beschreibung, die ich gerne bei Romanen verwende und die meistens positiv gemeint ist: es ist sehr dicht. Und ich mag dichte Bücher, sie geben mir ein Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit, sie vermitteln eine Konstante.
Bei einem solch existentiellen Thema wie dem Atem, ist das vermutlich eine wichtige Eigenschaft.
Lesen!